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Meinung: Polnischer Wodka mit britischem Preiselbeersaft

Roger Boyes, The Times

Beim Italiener um die Ecke fängt’s an. Seien wir ehrlich: Man geht nicht wegen des Essens dahin, sondern wegen des Lärms. Echte Italiener, die Berlin eine Woche lang besuchen, lachen darüber, wie aus Gnocchi eine bastardisierte Knödelform wurde, wie Fegato alla Veneziana (welch romantischer Name!) an ein Stück Schuhleder erinnert, das unter Zwiebeln begraben wurde, und wie die Berliner das alles natürlich nicht bemerken.

Nein, man geht in ein italienisches Restaurant, um dem deutschen Alltag zu entkommen. Die Bedienung flirtet mit den Gästen, Kinder werden nicht als Anlass betrachtet, bei der Seuchenbekämpfungsstelle anzurufen, sondern mit einem fröhlichen „Che biondo!“ begrüßt. Sicher, der Chef mag ein Ghanaer sein und der Besitzer ein Türke, aber weil sich beide im Hintergrund halten, ist die Illusion perfekt.

Gerhard Schröder sagte einmal, am Italiener um die Ecke lasse sich eine erfolgreiche Integration ablesen. Das ist derselbe Ex-Kanzler, dessen Amtschef einst beschloss, sich nicht zu stark für die Freilassung eines Deutsch-Türken aus Guantanamo einzusetzen, weil sich durch die Anschläge vom 11. September 2001 die Grundlagen der multikulturellen Gesellschaft geändert hätten. Eine zweifelhafte Logik, aber zumindest in Bezug auf die italienischen Restaurants hatte Schröder recht.

Calcutta, das älteste indische Restaurant in Deutschland und bestimmt das beste in Berlin, hat seine Speisen erfolgreich umgestellt: Jetzt sind sie auch für einen schwachmagigen, postkolonialen Angelsachsen wie mich genießbar. Gleichzeitig ist es seiner indischen Tradition treu geblieben. Zuerst war ich skeptisch angesichts der Menge von Milch- und Joghurtgerichten auf der Speisekarte, aber in der vergangenen Woche stellte ich fest, dass Calcutta seine kulinarischen Prinzipien nicht aufgegeben hat.

Ich las einem kleinen Kind ein bengalisches Märchen vor (meine eigenen Kinder sind ein bisschen zu alt dafür, und ohne Daumenlutschen und das Hineinkuscheln in den väterlichen Pullover macht das Vorlesen keinen Spaß mehr). In der Geschichte sucht Prinz Basanta 12 Jahre und 13 Tage lang nach einem bestimmten Edelstein des Königselefanten. Er muss einen Berg überqueren, der mit Milch bedeckt ist, auf der anderen Seite liegt ein Ozean aus Sahne, und in dessen Mitte steht der weiße Königselefant. Aber als Basanta in die Sahne springt, verwandelt sie sich in eine Wüste.

Ich weiß nicht, was das bedeutet, und der kleine Junge war vor dem Ende eingeschlafen, so dass ich keine Fragen beantworten musste. Aber die Geschichte beweist, dass Milch schon immer eine Rolle in der indischen Küche gespielt hat und dass es einen bereichernden Kompromiss geben kann zwischen einer eingewanderten Kultur und dem Gastland.

Die eingewanderte Gemeinschaft passt sich an den Geschmack des auserwählten Landes an, und wir, im Gegenzug, akzeptieren die Fremden als Teil unserer Gesellschaft. So geschieht es auf der ganzen Welt und lässt sich aus jeder Speisekarte ablesen – von süßsaurem Schweinefleisch (mit ein paar chinesischen Gewürzen, um dem europäischen Gaumen Interessantes zu bieten) bis zu seltsamen mexikanisch-preußischen Verbindungen, die sich in Berlin finden lassen.

Was ich sagen will: Andere Kulturen bieten viel mehr als eine gute Küche oder die romantische Atmosphäre für einen Betriebsausflug. In Großbritannien leben heute rund 600 000 Polen. Viele sind nach Mai 2004 eingereist, als Polen der EU beitrat. Es gibt zwar auch Spannungen, aber insgesamt arrangieren wir uns gut mit ihnen, weil sie nützliche Dinge verrichten. Ja, sie sind Klempner und Kellnerinnen, aber auch Doktoren auf dem Land, Altenpfleger, Banker, selbst Polizisten in Nordirland (Gott helfe ihnen!). Und überall machen polnische Restaurants auf. Pierogi sind in, polnischer Wodka wird mit britischem Preiselbeersaft getrunken.

Sollte es jemals einen günstigen Moment in der deutschen Geschichte gegeben haben, sich der Welt zu öffnen, dann jetzt. Die Wirtschaft wächst, die Gesellschaft veraltet, Ostdeutschland wird, wenn derTrend anhält, in einem Jahrzehnt verödet sein. Das Land braucht frisches Blut.

Leider haben die Politiker zu viel Angst, dies zu fordern, der Stammtisch macht sie nervös. Nun, das ist Deutschlands Entscheidung. Und als ein hier (mehr oder weniger glücklich) lebender Ausländer muss ich sie akzeptieren. Aber haben Sie nicht das Gefühl, dass etwas fehlt? Ist es nicht traurig, dass man erst ein italienisches Restaurant besuchen muss, um mediterrane Wärme zu erfahren? Und kommt es Ihnen nicht seltsam vor, dass man auf dem Ku’damm nur bleiche, erschöpfte Gesichter wie das meinige sieht?

Übersetzt von Malte Lehming.

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