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© Thilo Rückeis

Porträt Wolfgang Thierse, Bundestagsvizepräsident: "Journalistischer Zeitgeist rückte nach rechts"

Wolfgang Thierse ist dafür bekannt, dass er immer wieder einmal Feinde und sinistre Bestrebungen ausmacht, wo eigentlich alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Das überrascht umso mehr, als der 65-Jährige einer der gebildetsten Abgeordneten des Bundestages ist.

Was haben Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse und die Doyenne der Meinungsforschung, Elisabeth Noelle-Neumann, gemeinsam? Beide glauben, die Medien manipulierten die Öffentlichkeit und beeinflussten so Wahlentscheidungen in jene Richtung, der sie selbst mehrheitlich zuneigen.

Die damalige Chefin des Allensbacher Instituts für Demoskopie formulierte in den 70er Jahren die These, eine nach links tendierende Journalistenschar gaukele dem Publikum vor, auch die Mehrheit der Bevölkerung neige der SPD zu. Als Folge wagten Unionsanhänger sich nicht mehr öffentlich zu bekennen, und im Endeffekt machten sie dann auch gegen die eigene Überzeugung bei den Sozial- und nicht bei den Christdemokraten ihr Kreuzchen. Bei Wolfgang Thierse ist es umgekehrt. Der Zeitung „Die Welt“, linker Tendenzen eher unverdächtig, erklärte er nun, „der journalistische Zeitgeist (ist) nach rechts gerückt“. Deshalb würde die Niederlage seiner Partei herbeigeschrieben. Das sei auch schon 2005 so gewesen, aber da habe man ja gesehen, dass die Wirklichkeit ganz anders sei.

Wolfgang Thierse ist dafür bekannt, dass er immer wieder einmal Feinde und sinistre Bestrebungen ausmacht, wo eigentlich alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Das überrascht umso mehr, als der 65-jährige geborene Breslauer einer der gebildetsten Abgeordneten des Bundestages ist und nach seiner ersten Wahl ins erste gesamtdeutsche Parlament wegen seiner glänzenden Rhetorik schnell zu den Lieblingen der Publizistik gehörte. In der DDR hatte der Kulturwissenschaftler und Germanist ab 1976 nach einem Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung in der Akademie der Wissenschaften überwintert. Im vereinten Deutschland gehört er, von 1998 bis 2005 als Bundestagspräsident, zur ersten Reihe der Politik.

Verbale Ausraster, die man aufgrund seiner Sprachgewalt kaum als lässliche Fehlgriffe einstufen kann, überraschen aber immer wieder. Eine Auswahl: Das Urteil gegen die unter Betrugsverdacht stehende Kassiererin Emmely fand er „asozial, barbarisch“. 2006 beschimpfte er die Polizei, sie ginge nicht entschlossen genug gegen rechtsradikale Umtriebe vor. 2002 nannte er eine Recherche von „Bild“ frei erfunden, konnte es jedoch nicht beweisen.

Thierse, so könnte man vermuten, ist mit der Welt, in der er lebt, nicht so recht im Reinen. Er würde wohl kontern, das läge nicht an ihm. 

Gerd Appenzeller

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