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© dpa

Position: Die Deutschen und der Krieg

Andere töten, wir graben Brunnen: So sieht sich dieses Land gern, auch in Afghanistan. Das hat Gründe und Tradition, meint Historiker und Gastautor Michael Wolffsohn.

Friedensnation Deutschland: „Berühren die Ereignisse in Afghanistan das deutsche Selbstverständnis als Friedensnation?“ Diese Frage stellte mir dieser Tage die Redaktion einer Zeitung aus dem westlichsten Westen unserer vereinten Republik.

„Friedensnation Deutschland“? Erinnerte ich mich richtig? Bis 1989 präsentierte sich das östliche Deutschland, die DDR, als deutsche „Friedensnation“. Im deutschen Westen, der „BRD“, lebten nur reaktionäre „Kriegstreiber“. Ist jener O-Ton-Ost 20 Jahre nach dem Mauerfall gesamtdeutscher Jargon oder gar verinnerlichter Teil neudeutscher Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung? Ist das vereinte Deutschland bezüglich seiner Geschichtswahrnehmung ossifiziert?

Nein. Nur der Jargon ist Ost, der Wunschtraum dagegen Ost-West; er war und blieb gesamtdeutsch. Schon 1982, auf dem Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte, zwitscherte die 17-jährige Nicole mit ihrem Lied „Ein bisschen Frieden“ die Bundesrepublik eurovisionär aufs Siegerpodest des populärsten kontinentalen Schnulzenwettbewerbs. „Ein bisschen Frieden“ oder, noch lieber, „Frieden total“ – das war die Sehnsucht des neuen Deutschlands und der neuen Ost-West-Deutschen.

Frieden total? Grufties wie mir (Jahrgang 1947) ist das Image vom alten Deutschland bekannt: Das „Volk der Täter und NS-Massenmörder“, das Volk, das von Goebbels im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 brüllend gefragt, brüllend antwortend den „Totalen Krieg“ wollte.

Vor dem Traum vom Totalen Frieden endete der Totale Krieg (gottlob und den Alliierten sei Dank) mit der totalen Niederlage der Hitlers, Goebbels und ihres vermeintlich ewigen Kriegervolks. Im Aus- und sogar Inland wurde nach 1945 und lange danach nicht selten suggestiv gefragt, ob denn „die Deutschen“ Kriegsgene in sich trügen. Barbarei, Völkermordlust, Sadismus und Militarismus galten national und international als typisch deutsch. Das war das Deutschland- und Deutschen-Image.

Das „typisch Deutsch-Kriegerische“ habe direkt zu den von Deutschland ausgelösten zwei Weltkriegen, zu Hitler und Holocaust geführt. So das Image. Gewiss, jedes Image ist eine grobe, oft rabiate Vereinfachung, aber diese Vereinfachung entspricht der Wahrnehmung, wobei Wahrnehmung und Wirklichkeit keineswegs deckungsgleich sind oder sein müssen.

Strittig schien nur diese Frage: Hat das alles, diese „direkt auf Weltkriege plus Hitler plus Holocaust zielende typisch deutsche Entwicklung“ schon mit den barbarischen, banausigen, kulturzerstörerischen Germanen begonnen oder erst mit Luther oder Bismarck? „Die Deutschen und der Krieg“. „Die Deutschen = Krieg“. So war, nicht nur im „feindlichen Ausland“, das Image des alten Deutschland. Das neue Deutschland ist wirklich ganz anders.

Wiederum ganz anders sei gefragt: Wann, wie und warum wurde das alte Deutschland so kriegerisch? Spiegelbildlich folgt die Frage: Wann, wie und warum wurde die Fiktion vom neuen Deutschland als „Friedensnation“ zum Faktum? Entspricht dieses neue Faktum der „Friedensnation“ noch immer der Wirklichkeit?

Das mittelalterliche Heilige Römische Reich deutscher Nation war ein tönerner Riese und kein einheitlich handelnder Akteur. Es war mehr Objekt als Subjekt der europäischen Geschichte. Traumatisch wurde und wirkte der Dreißigjährige Krieg. Dieser fast gesamteuropäische Großkrieg tobte von 1618 bis 1648 weitgehend auf deutschem, nicht zuletzt brandenburgischem Boden. Drei bis vier der rund 17 Millionen Deutschen verloren ihr Leben.

Nicht wörtlich, doch wirklich: „Nie wieder!“ beschloss Friedrich Wilhelm I., der Große Kurfürst von Brandenburg (1640-1688). Nie wieder Opfer, nie wieder Objekt der „Supermächte“. Heute würde man sagen: Er setzte auf Abschreckung durch Aufrüstung. Das war der Beginn des preußisch-deutschen Militarismus.

Am Anfang, im 17. Jahrhundert, war der deutsche Militarismus, die Vorstellung der Deutschen vom Krieg, rein defensiv. Allmählich wurde sie, besonders unter Friedrich dem Großem, offensiv. Er machte sogar vor anderen Deutschen nicht halt. Die Sachsen, Dresdener besonders, wissen das am besten. Wieder defensiv war der Ansatz der Deutschen im antinapoleonischen Widerstand sowie in den Freiheitskriegen gegen Frankreichs Kaiser. Beinahe hätte er, wie einst die Mächte im Dreißigjährigen Krieg, das Kernland deutscher Macht, Brandenburg-Preußen, ausgelöscht. Dieser Ohnmacht folgte erneut der rasche Ausbau deutscher, vor allem preußischer Macht. Gerne intervenierte sie – mit dem russischen Zarenreich – in, das heißt gegen den Freiheitsdrang der Polen.

Politisch offensiv nutzte Bismarck seit 1862 Krieg als Mittel der Politik. Der Weg von Preußen zum Deutschen (Kaiser-)Reich von 1871 führte über drei Kriege: gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71). Die Deutschen und der Krieg: Das schien nun eine für Deutschland relativ risikolose Einheit der Zweiheit. Viele Deutsche wollten zwar mehr – nicht nur das Deutsche Reich, sondern ein deutsches Weltreich. Doch Bismarck bremste: Die Grenze der deutschen Größe sei erreicht. Bis hierher und nicht weiter!

Den Expansionsdrang vieler seiner Landsleute hielt er damit nicht auf. Sie wollten einen „Platz an der Sonne“, notfalls durch Krieg. Den bekamen und bewirkten sie mit: den Ersten Weltkrieg. Die Deutschen verloren. Stattdessen gewannen sie die Demokratie der Weimarer Republik, die sie freilich gerne gleich wieder verloren hätten, weil sie nie ihre Herzen eroberte. Im Feld unbesiegt, die Heimatfront versagt, sagten die Unbelehrbaren. Revanche und Rache wegen dieses „Dolchstoßes“ forderten sie. Das wollten viele Deutsche der Weimarer Republik.

Sie wollten, wählten und bekamen Hitler. Wieder Krieg wollten die meisten Deutschen nicht, Arbeit wollten alle. Die bekamen sie bis 1936. Dafür sorgte Hitler – durch Aufrüstung, die Krieg, Massenmord und Massensterben vorbereitete. Vollbeschäftigung als Instrument des kollektiven Mords und Selbstmords.

1938 nahmen die Deutschen Österreich. Kein Krieg, ein militärischer Tagesausflug. Aus Klein-Deutschland wurde im militärischen Spaziergang Groß-Deutschland. Wer ist größer: Bismarck oder Hitler? Nicht nur für den Historiker Wilhelm Mommsen: Hitler. Mommsen feierte Hitler als Vollender und Überwinder der Bismarckschen Klein-Einheit Deutschlands.

Nach dem Militär-Ausflug in die Alpen bekamen die Deutschen 1939 wieder einen richtigen Krieg. Die meisten wollten ihn nicht, denn den hohen Blutzoll des Ersten Weltkrieges hatten sie nicht vergessen. Doch dieser Krieg sah nach den deutschen Siegen über Polen, Dänemark und Norwegen bis zum Frühjahr 1940 sogar für die Franzosen geradezu drollig aus. Unter dem „Größten Feldherren aller Zeiten“ spazierten die Deutschen nach dem Sieg über „Erzfeind Frankreich“, die Niederlande und Belgien dem Weltmacht-Ziel entgegen.

Ab Juni 1941 überrollten sie die Sowjetunion. Im Dezember 1941, spätestens in Stalingrad folgte im Februar 1943 die Wende und 1945 das Ende: rund 57 Millionen Tote weltweit, die industrielle Vernichtung von 6 Millionen Juden, rund 6 Millionen tote Polen, mehr als 20 Millionen tote Sowjetbürger und schließlich mehr als 5 Millionen toter Deutscher. Dieser Krieg war total und fatal, nicht nur für Deutschland, aber auch für Deutschland und die Deutschen.

Die Deutschen und der Krieg, Mai 1945: Die Deutschen sahen ihr Land, ihre Städte, sich selbst und ihre östlichen Nachbarn. Die Heere hatten verheerend, vernichtend gewütet. Deutschland und der Osten Europas lagen in Schutt und Asche, die Menschen am Boden – sofern sie überlebt hatten. Und das alles hatte ganz offensichtlich der Krieg Hitlers und der Deutschen ausgelöst.

Fast ausgelöscht hatten die Deutschen andere Völker – und damit zuletzt auch ihre eigene Zerstörung bewirkt. Diese Lektion war ebenso sichtbar wie eindeutig. Was lag näher, als dass die Deutschen im nun gespaltenen Deutschland sich selbst und anderen beteuerten: „Nie wieder Täter!“ und „Nie wieder Krieg!“

„Die anderen führen Krieg, du glückliches Österreich, heirate“, hatte Maria-Theresia im 18. Jahrhundert gesagt (obgleich auch sie Krieg führte). Ähnlich surreal dachten nach 1945 die Deutschen in Ost und West: Die anderen fochten in der weiten Welt weiter so manchen Krieg, doch „du glückliches West-Deutschland“ führtest stattdessen Handel.

Aus dem deutschen Homo militaris wurde der Homo oeconomicus. Die anderen bluteten, West-Deutschland blühte in der Welt durch den Welthandel, weil die Deutschen keine Weltmacht mehr waren und sein wollten, wofür ihnen die anderen Achtung zollten und ihre Produkte kauften.

Die Ost-Deutschen haben Gleiches gewollt, doch nicht gekonnt, weil nicht gedurft. Der Große Bruder in Moskau ließ das nicht zu.

Mitte der sechziger Jahre baten die USA die „BRD“ um Hilfe im Vietnamkrieg. Nein, sagte Kanzler Erhard. Die West-Deutschen wollten nicht in den Krieg. Man schickte das Sanitätsschiff „Helgoland“. Das war für das nun gute, neue Deutschland das Beste im Schlechten und Schlachten, im Krieg.

Die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition war vor allem deshalb so populär, weil sie die Friedenssehnsucht der Deutschen in West (und Ost!) in konkrete Friedenspolitik umsetzte.

1980 bat US-Präsident Jimmy Carter Kanzler Helmut Schmidt um deutsche Marine-Beteiligung zum Schutz der freien Schifffahrt im Persischen Golf. Der militante Iran sollte abgeschreckt werden. Schreckhaft und ablehnend reagierten Kanzler und Volk. Jener hatte im Bundestagswahlkampf 1980 ein Thema, sein Thema: Frieden. Dass Schmidt kurz davor zu den Vätern des Nato-Nachrüstungsbeschlusses (1979) zählte, gehört zur Ironie (oder zum Zynismus) der Geschichte. Die Nato-Nachrüstung wollten die West-Deutschen nicht. Noch weniger mochten sie die damalige Wirtschaftspolitik der SPD. Deshalb wurde sie 1983 abgestraft und abgewählt. Man beachte: Arbeit war (ist?) noch wichtiger als Frieden.

Schmidts Nachfolger Helmut Kohl wollte und machte Nachrüstung zur Kriegsvermeidung, brachte Arbeit und im Oktober 1990 – anders als Bismarck ohne Krieg(e) – die zweite Einheit Deutschlands, das nun vom Ewigen Frieden träumte.

Der Albtraum folgte schon im Januar 1991: der Golfkrieg. Die USA baten die Deutschen um Hilfe. Die sagten wieder „Nein danke!“ und kauften sich frei. Kaum vereint und schon Krieg? Das sollte, durfte nicht sein, zumal die Ost-Deutschen nach der Vereinigung endlich und verständlich ebenfalls die Früchte des neuen Deutschlands ernten wollten. Zuvor hatten sie als Genossen das „Neue Deutschland“ genießen müssen, das sterbenslangweilige SED-Parteiorgan. Mit den West-Vokabeln waren sie anfangs nicht so vertraut, doch den Kern des West-Denkens hatten sie verstanden: Kriegsverzicht und Wohlstand hängen zusammen.

Doch auch diese Nie-wieder-Weltmacht wurde unerbittlich von der Wirklichkeit der Weltpolitik eingeholt. Im Juni 1991 begannen die neuen Balkankriege. Gute, beschwichtigende Worte wirkten nicht. Flüchtlingswellen drohten Deutschland und Westeuropa zu überfluten. Wären die Deutschen 1999 mit ihren Partnern nicht in den Balkan gegangen, um schließlich den Kosovo-Krieg zu beenden, wäre der Balkan nach Deutschland gekommen.

Demografie und Ökonomie diktierten das Interesse der deutschen Friedensnation. Sie kriegten von Joschka für diesen Krieg ein gutes Gewissen: Auschwitz I gegen die Juden hatten die Deutschen verbrochen, Auschwitz II gegen die muslimischen Kosovo-Albaner wollten sie verhindern. Trotz und im Krieg bewahrte man den bewährten neudeutschen „Moral-Heroismus“, mit dem sich Rot-Grün von 2002 bis 2005 und dann, allerdings weniger aufdringlich, Schwarz-Rot im Afghanistan-Krieg national weltweit selbst pries. Tenor: Die anderen, besonders die Amerikaner und Briten, führen Krieg, wir graben Brunnen.

Kundus, 4. September 2009: À la carte kriegt keiner Krieg. Die Friedensnation erwacht. Aus der Traum. Die Wirklichkeit erreicht die Wahrnehmung der Deutschen. Wirklich?

Michael Wolffsohn ist Historiker an der Bundeswehruniversität in München.

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