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POSITIONEN: Angela Merkel muss mehr für Bosnien tun

Auch 20 Jahre nach Kriegsbeginn steht Deutschland in der Pflicht.

Seit DDR-Zeiten ist mir Angela Merkel persönlich bekannt. Ob sie beim Thema Bosnien Empathie hat, zeigt sie nicht. Sie hat eine Laudatio für Zoran Djindzic gehalten, der später mutig, zuvor jedoch eng mit serbischem Nationalismus verbunden war. Herausragende Vertreter Bosniens würdigte sie nie in ähnlicher Form – weder jüdische noch muslimische oder christliche, auch nicht Opfer des Genozids und der serbischen Aggression.

Um klar zu machen, worüber wir reden: Es war der größte Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, mit mehr als 100 000 Toten in einem kleinen Land; auf Deutschland bezogen wären in nur dreieinhalb Jahren über zwei Millionen Tote zu beklagen gewesen. Vor allem um das Wegsehen der politischen Klasse zu beenden, hatte ich am 10. Dezember 1992, dem Tag der Menschenrechte, in einer Rede vor dem Bundestag dem Grauen ein Bild gegeben. Es fiel mir schwer, unaussprechliches Grauen auszusprechen. Es fällt heute schwer, den Ärger, ja die Wut über den Mangel an Ernsthaftigkeit zurückzuhalten, der auch die deutsche Politik gegenüber Bosnien kennzeichnet. Jährlich wird ein Ritual abgespult, das Massaker von Srebrenica mit mehr als 8000 Toten zu beklagen. Die anderen über 90 000 Toten, hunderttausende Verwundete, zwei Millionen (!) Vertriebene, denen Familie, Hab und Gut zerstört oder geraubt – und bis heute verweigert – wurden, sind „abgehakt“.

Viel zu spät wurde den Opfern geholfen. Dann wurde ihr Staat in einem „Kompromiss mit Kriegsverbrechern“ zerteilt, den Angreifern wurden Gebiete zugeschlagen, die sie mit Massenmord erobert hatten – auch Srebrenica. Im Dayton-Vertrag wurde, unter Beteiligung auch deutscher Diplomaten, im Kompromiss mit Milosevic, Karadzic und Mladic den Bosniern der Staat amputiert und ramponiert. Muslime, Juden und Christen hatten das in Europa beste Beispiel für gelebte Toleranz gegeben, eine unglaubliche Leistung. Nach drei Jahren Massenmord wurde dies nicht etwa wiederhergestellt, im Gegenteil: Was 500 Jahre aufgebaut war, wurde nach dem Stopp des Krieges in wenigen Wochen in Dayton zerstört.

Formal wurde Bosnien in seinen Grenzen erhalten. Innen jedoch wurde separiert und selektiert. Es wurde eine völkische Verfassung aufoktroyiert, mit Blockaderechten für Nationalisten, die bis heute jeden Schritt zu einer Normalisierung verhindern. Schlimmer noch: erstmals seit den Nazis wurden in Europa Juden und Roma Grundrechte aberkannt, zum Beispiel das, sich in allen Wahlen bewerben zu können. Erst die 2009 erfolgreiche Klage von Vertretern der Juden und Roma vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zwang auch die EU zur Revision ihrer zuvor ebenso sturen wie sakrosankten Haltung.

Unschwer lässt sich vorstellen, wie das zu Ostern veröffentlichte Schreiben des deutschen Außenministers „einschlug“. Dort stellt der in Balkan-Fragen früher mit hoher Empathie agierende Guido Westerwelle Bosnien den EU-Kandidatenstatus in Aussicht. Allerdings, so forderte der deutsche Außenminister mit seinem britischen Kollegen: Bosnien müsse nun aber endlich die Verfassung ändern, die bekanntlich gegen EU-Recht verstoße. Das aber geht nun nicht: erst ein ganzes Land Kriegsverbrechen ausliefern, zu spät eingreifen, dann eine völkische Verfassung überstülpen – und danach das blockierte Land auffordern, sich gegen die Übermacht von Nationalisten aufzulehnen?

Der Grund für unser Versagen nach dem Versagen war ein Mangel an Empathie. Bosnien hat 20 Jahre nach dem Beginn dieses Grauens ein fundamentales Recht auf mehr Engagement. Die immer noch schwelende Lunte unterhalb der Oberfläche muss politisch in Angriff genommen werden. Diplomatie hat in Bosnien nun lange genug versagt.

Nach dem sechzigsten Mal habe sie aufgehört zu zählen, wie oft sie noch vergewaltigt wurde, sagte mir eine Überlebende. Nicht nur sie hat ein Recht auf unser aktives Handeln.

Der Autor war von 1990 bis 1994 Mitglied des Bundestages und

ist Ehrenbürger von Sarajevo.

Stefan Schwarz

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