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POSITIONEN: Betroffenheit ist kein Handicap

Wer Behindertenpolitik macht, sollte selbst behindert sein

Mainz gehört zu den Städten mit der größten Barrierefreiheit in Europa. 2005 wurde die Stadt von einer Unesco-Organisation unter 48 vorbildhaften barrierefreien Städten auf Platz zwei gekürt. Dieses Gütesiegel verdankt Mainz auch dem jahrelangen unermüdlichen Einsatz seiner Behindertenbeauftragten Marita Boos-Waidosch. Durch Leistung und Überzeugungsarbeit hat die 1953 geborene und mit zwei Jahren an Kinderlähmung erkrankte Rollstuhlnutzerin viele Schwierigkeiten im eigenen Alltag und in dem anderer gehandicapter Menschen gemeistert.

Sie und andere Behindertenbeauftragte wissen aus eigener Erfahrung, was es heißt, mit Barrieren und Vorurteilen fertig zu werden. Daher verlangen gelähmte, gehörlose, amputierte, blinde, seh-, hör- und andere stark beeinträchtigte Frauen und Männer zurecht von der Politik, qualifizierte Persönlichkeiten aus ihren Reihen zu Behindertenbeauftragten zu berufen und ausreichend mit Kompetenz auszustatten. Nur dadurch können Barrieren und Vorurteile im Alltag von gehandicapten Menschen eliminiert werden.

Und die Politik? In der Opposition solidarisieren sich die Parteien mit den Anliegen der Menschen mit Behinderungen, deren Zahl durch die demografische Entwicklung ständig größer wird. Doch nach gewonnener Wahl vergessen sie oft ihr Versprechen und vergeben die Position des oder der Behindertenbeauftragten an jemanden, der bei der Postenverteilung nicht zum Zug gekommen ist.

So hat die rot-grüne Koalition in Nordrhein-Westfalen die in der Vorgängerregierung mit einer behinderten Frau ehrenamtlich besetzte Position der Behindertenbeauftragten in eine hauptamtlich nach Besoldungsgruppe B4 bezahlte Tätigkeit umgewandelt und sie an den nicht wiedergewählten SPD-Landtagsabgeordneten Norbert Killewald vergeben.

Nun will auch die in BadenWürttemberg mitregierende SPD ihren früheren Fraktionsgeschäftsführer Gerd Weimer zum Landesbehindertenbeauftragten machen. Die Funktion soll ehrenamtlich wahrgenommen werden. Zu ihren Insignien gehören aber – wie bei Bundesbehindertenbeauftragten – eine gute Aufwandsentschädigung, ein Arbeitsstab und Dienstwagen. Baden-Württembergs Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) scheint den, im Wahlkampf den gehandicapten Menschen versprochenen, Paradigmenwechsel vergessen zu haben. In RheinlandPfalz dagegen hatte Kurt Beck auf den Vorschlag der Mainzer Behindertenbeauftragten hin schon 2007 trotz der absoluten Mehrheit seiner Partei den fast blinden Vize-Fraktionschef der Grünen im Kasseler Stadtparlament, Ottmar Miles-Paul, zum Landesbehindertenbeauftragten berufen. Dank der Überzeugungsarbeit Miles-Pauls war Kassel, einschließlich Documenta, schon damals barrierefrei. Inzwischen hat Rheinland-Pfalz bisher als einziges Land einen von Miles-Paul unter Beteiligung vieler betroffener Menschen und aller Selbsthilfeorganisationen erarbeiteten Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) vorgelegt. Als negatives Beispiel kritisieren behinderte Menschen hingegen die halbherzige Arbeit der schwarzgelben Landesregierungen bei den Landesaktionsplänen. In Hessen beispielsweise zeigte der dafür eingesetzte Arbeitsstab im Sozialministerium bei seiner ersten Sitzung eine Power-Point-Präsentation, ohne sie für die anwesenden blinden Frauen und Männer zu erklären. Die Selbsthilfeorganisation gehörloser Menschen wurde erst durch massive Kritik der Medien in die Arbeit einbezogen.

Die BRK schreibt völkerrechtlich verbindlich die Beteiligung behinderter Menschen bei allen sie betreffenden Fragen vor. Und die Staats- und Regierungschefs der EU sicherten während des den Menschen mit Behinderungen gewidmeten europäischen Jahres 2003 zu, sich von deren Forderung leiten zu lassen: „Nicht über uns ohne uns!“ Das sollten auch die politischen Parteien endlich beherzigen.

Der Autor, von Geburt an blind, ist freier Journalist. Er lebt in Frankfurt am Main.

Keyvan Dahesch

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