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POSITIONEN: Bosnien: Meine bittere Bilanz

Christian Schwarz-Schilling war von Januar 2006 bis Juni 2007 Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina. Seiner Meinung nach muss Sarajewo von der Weltgemeinschaft weiter bevormundet werden.

Am Ende des Jahres 2006 war es nicht mehr möglich, die Lage in Bosnien-Herzegowina schönzureden, die Realität in der Westbalkanregion einfach tot zu schweigen. Obwohl in der internationalen Politik und in den Medien immer nur vom Kosovo die Rede war, hatte sich die Staatengemeinschaft in Bosnien selbst in Zugzwang gebracht: Mitte des Jahres 2007 sollte ein feierlicher Übergang von der „Dayton“-Ära zur „Europa“-Ära stattfinden. So hatte es der „Peace Implementation Council“ (PIC) vor einem Jahr beschlossen.

Der mit großen Machtmitteln ausgestattete OHR (Office of High Representative) der internationalen Gemeinschaft sollte geschlossen werden und in einen weniger mächtigen EUSR (European Union Special Representative) umgewandelt werden. Doch daraus wurde nichts. Was war passiert? Die wichtigsten politischen Reformen fanden 2006 nicht statt; eine Verfassungsreform, welche seit Mitte 2005 primär von den Amerikanern betrieben wurde, scheiterte im Parlament; die Einigung über eine Polizeireform kam nicht zustande. Aber es kam noch schlimmer: Im Wahljahr 2006 kam es zu ideologisch-rhetorischen Exzessen zwischen Politikern aus den jeweiligen Entitäten. Der Ministerpräsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, spekulierte öffentlich über die Abspaltung der Republika Srpska von dem Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina; der Bosniake Haris Silajdzic sprach von der notwendigen Abschaffung der Republika- Srpska-Polizei und der Auflösung dieser Entität.

Beide Kontrahenten gingen in ihren jeweiligen Entitäten als Wahlgewinner bei der Wahl am 1. Oktober 2006 hervor, so dass diese Auseinandersetzung nach dem Wahltag weiter zunahm. Kein Wunder, dass die Stagnation in der politischen Reformagenda das ganze erste Halbjahr des Jahres 2007 andauerte.

So bedauerlich diese Verzögerung auf dem Weg nach Europa ist, so hatte sie doch auch ein Gutes: In dieser Zeit mussten alle Beteiligten von dem Höhenflug politischer Illusionen auf den Boden der Realität zurückfinden.

Die Bosnier mussten erkennen, dass sie von einem funktionierenden Rechtsstaat weit entfernt sind; dass der Weg von internationaler Vormundschaft zur Eigenverantwortung viel schwieriger ist, als sie vermutet haben; dass der Weg nach Europa, dass Zukunftsorientierung und Versöhnung nach dem schrecklichsten Völkermord in Europa seit dem II. Weltkrieg anderer Anstrengungen bedarf als sie bisher zu leisten imstande waren.

Aber auch die internationale Staatengemeinschaft musste einen Lernprozess absolvieren: Dass die Aufarbeitung des Völkermordes längerer Zeit bedarf als ein paar Jahre; dass das Funktionieren demokratischer Institutionen nicht nur von oben angeordnet werden kann, sondern sorgfältig abgestimmter Maßnahmen in der Zivilgesellschaft bedarf, und dass die Zeitpläne nach der wirklichen Situation des Landes ausgerichtet werden müssen und nicht nach den Wünschen von Politikern und Berufsdiplomaten.

Wie soll es weitergehen? Ein Jahr wird kaum ausreichen, um die Voraussetzungen zu schaffen. Eine andere – bessere – Möglichkeit wäre, dass Europa nach der Schließung des OHR bei der „Transition“ ein höheres Maß an Verantwortung übernimmt, einschließlich notwendiger Interventionsrechte und einer Sicherheitsgarantie für die verängstigten Menschen dieses Landes. Aber wer kann nach den historischen Erfahrungen darauf vertrauen, wenn selbst die gutwillige deutsche Präsidentschaft in einer Phase, wo die militärischen und zivilen Spitzenpositionen, sowohl im Kosovo als auch in Bosnien, von Deutschen besetzt werden, kaum etwas damit anfangen konnte und den günstigen Moment ungenutzt verstreichen ließ? So wird es wohl noch einige Jahre bei dem in Dayton beschlossenen OHR-Regime der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina bleiben müssen.

Der Autor, ehemaliger Bundespostminister, war von Januar 2006 bis Juni 2007 Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina.

Christian Schwarz-Schilling

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