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POSITIONEN: Damit wäre jedem geholfen

Nur wenige Firmen denken an Menschen mit Behinderungen. Warum nehmen wir uns nicht die USA zum Vorbild?

Seit Jahren verkauft mir mein Elektrohändler kein Radio mehr. Nicht, weil ich seine Rechnungen nicht prompt begleiche, sondern weil es kaum Geräte gibt, die ein blinder Mensch wie ich ohne Hilfe benutzen kann. Lieber sucht er bundesweit nach Ersatzteilen und repariert das alte Radio. Die modernen Empfänger mit immer weniger werdenden Tasten, mit denen man sich durch etliche Menüs zurechtfinden muss, sind nur optisch wahrnehmbar. Sprachchips, die die Funktionen auch ansagen würden, könnten die Barrieren für sehbehinderte Menschen ausräumen. Die Produzenten kommen aber nicht auf die Idee, diese zu verwenden.

Das gilt in der Regel leider für viele Haushalts- und Kommunikationsgeräte. Deshalb können sie sehbehinderte Menschen ohne Hilfe nicht benutzen. Es gibt sehr wenige Firmen, die bei ihren Produkten auch an Menschen mit Behinderungen denken. Und dies, obwohl die Zahl dieser Menschen allein durch die demografische Veränderung ständig größer wird. Eine Insellösung, das heißt spezielle Angebote für eine bestimmte Gruppe, wäre teuer und nur gerechtfertigt, wenn es überhaupt keine Alternativen gibt.

Effektiver sind barrierefreie Produkte, die Menschen mit und ohne Behinderungen gleicher maßen benutzen können. Daher sollten Städteplaner, Architekten und Konstrukteure bei Gebäuden, Bahnen und Geräten aller Art Barrieren vermeiden. Dann können die Menschen auch bei einem Handicap bis ins hohe Alter zu Hause leben. Bei Bussen und Bahnen mit ebenerdigem Ein- und Ausstieg ist die Unfallgefahr erheblich geringer. Auch Rollstuhlfahrer und Eltern mit Kinderwagen können sie problemlos benutzen.

Obwohl unser Haus einen Aufzug hat, konnte eine Nachbarin mit einem gebrochenen Bein auf Krücken nur mit größter Anstrengung bis zur Haustür und zurück kommen, weil der Fahrstuhl zwischen zwei Etagen hält.

Auf einer Fahrt nach Berlin telefonierte ich mit einem gewöhnlichen Handy. Eine für über 300 Euro darauf installierte Software sagte mit gut verständlicher Stimme die gewünschten Nummern. Gleich rief mein Sitznachbar einen Freund an und erklärte ihm freudig: „Ich habe für dich eine tolle Hilfe gefunden.“ Mir sagte er, sein gleichaltriger Freund habe kürzlich das Augenlicht verloren und sei besonders traurig, weil er unter anderem sein Mobiltelefon nicht mehr nutzen könne. Wir bedauerten, dass die Sprachsoftware nicht fabrik mäßig in allen Elektrogeräten angeboten werde. Dann würde sie höchstens einige Cent mehr kosten und den Verbrauchern die Handhabung auch komplizierter Apparate erleichtern. Vor lauter Freude über die entdeckte Hilfe für seinen lieben Freund schenkte mir mein Sitznachbar, der sich als 90 Jahre alter Kugelschreiber fabrikant aus Offenburg vorstellte, einen teuren Kugelschreiber.

Warum nehmen wir uns nicht die USA mit ihrem seit Juli 1990 konsequent praktizierten Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz für behinderte Menschen zum Vorbild, dem „The Americans with Disabilities Act“? Weil danach die Waren und Dienstleistungen für alle Menschen benutzbar angeboten werden müssen, haben dort rund 50 Millionen gehandicapte Menschen jährlich 200 Milliarden Dollar zusätzlich in den Wirtschaftskreislauf gebracht.

Den mit diesen Fakten untermauerten Appell der Rollstuhl nutzerin Judith Heumann, der stellvertretenden US-Bildungs ministerin der Clinton-Regierung, es in Deutschland ebenfalls damit zu versuchen, haben Regierung und Wirtschaft bislang leider in den Wind geschlagen. Wann beherzigen wir endlich den Satz, mit dem Altbundespräsident Richard von Weizsäcker vor 15 Jahren die meiner Ansicht nach beste Rede, die in Deutschland zum Umgang mit Menschen mit Behinderungen gehalten wurde, abschloss: „Was wir zu lernen haben, ist so schwer und doch so einfach und klar: Es ist normal, verschieden zu sein.“

Der Autor, von Geburt an blind, ist freier Journalist und lebt in Frankfurt am Main.

Keyvan Dahesch

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