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POSITIONEN: Der Unheilsprophet

Jürgen Zöllner war früher für ein Wahlpflichtfach Religion – und nun das!

Offener hätte es Bildungssenator Jürgen Zöllner nicht sagen können: „Jeder, der nicht in den Ethikunterricht geht, ist ein Verlorener.“ Menschen, die sich die Freiheit nehmen, etwas anderes zu glauben, wurden bisher vornehmlich von Fundamentalisten als „Verlorene“ bezeichnet. Jetzt schlüpft also der Bildungssenator in die Rolle des guten Staatshirten, der sich um die „für die Integration Verlorenen“ Sorgen macht.

Es gibt keinen einzigen wissenschaftlichen Beweis für den tiefen Glauben des staatsfrommen Senators an die Integrationskraft des neuen Schulfaches „Ethik“. Es spricht im Gegenteil sehr viel dafür, dass Kinder mit einer guten religiösen Bildung dialogfähiger und reflektierter mit religiös-weltanschaulicher Vielfalt umgehen können. Alle empirischen Untersuchungen über die Religionslehrerschaft in Deutschland beweisen, dass deren wichtigstes Anliegen die Sensibilisierung für religiöse Vielfalt und die Förderung der Sprachfähigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler ist.

Ob hingegen die Ethiklehrkräfte imstande sind, „die Auseinandersetzung mit Werten“ tatsächlich anzuleiten und zu moderieren, ist bisher noch nicht unter Beweis gestellt worden. Was für eine Ausbildung erhalten eigentlich die Ethiklehrkräfte? Was lernen sie über das Christentum, das Judentum und den Islam? Haben sie in ihrer Ausbildung jemals eine theologische Vorlesung besucht?

Es ist bis jetzt eine reine Glaubensfrage, ob man den Ethikunterricht oder den Religionsunterricht für dasjenige Fach hält, das die Integration einer sich religiös-weltanschaulich pluralisierenden Stadt besser gewährleistet. Warum hat eigentlich der rot-rote Senat keine vergleichende Studie durchgeführt, bevor er gegen den Willen seines eigenen Schulsenators Klaus Böger die Einrichtung des Zwangsfaches „Ethik“ beschloss? Dann könnte die Stadt heute seriös und sachlich auf der Grundlage der Ergebnisse empirischer Bildungsforschung diskutieren.

So aber wird die pädagogische Frage zur Glaubensfrage. Dabei überfordert unser guter Hirte Zöllner die Schulen maßlos, wenn er ihnen die „zentrale Aufgabe“ beimisst, „die Gesellschaft zusammenzuführen“. Da können die Lehrkräfte vor Ort nur müde lächeln. Aber es ist ja noch schlimmer: Mit der Entscheidung Berlins gegen einen ordentlichen Religionsunterricht fördert der Berliner Senat eine Entwicklung, die das ganze Gegenteil bewirken wird. Eltern, die eine religiöse Bildung für ihre Kinder wünschen, wie sie im Rest der Republik üblich ist, werden ihre Kinder auf Schulen in religiöser Trägerschaft schicken. Würde an den öffentlichen Schulen sowohl Religionsunterricht als auch Ethikunterricht angeboten, dann könnte tatsächlich ein informierter interreligiöser Dialog an den öffentlichen Schulen – übrigens auch in den Lehrerzimmern – stattfinden. Das wäre ein Beitrag zur Integration. Der Weg des rot- roten Senats in Berlin integriert nicht, er verdrängt vielmehr die bildungsnahen religiösen Eltern aus der öffentlichen Schule.

Jürgen Zöllner war jahrzehntelang Kultusminister in Rheinland- Pfalz. Zu keinem Zeitpunkt hat er den grundgesetzlich garantierten Religionsunterricht dort infrage gestellt. Auch kann ich mich nicht erinnern, dass der Kultusminister den Religionsunterricht jemals als eine Gefahr für die gesellschaftliche Integration bezeichnet hätte. Warum auch, Rheinland-Pfalz ist ein religionspolitisch befriedetes, wohl integriertes Bundesland. Was für ein Bekehrungserlebnis hat aus dem früheren Befürworter des Religionsunterrichts einen Unheilspropheten gemacht, der die Kinder, die Religionsunterricht besuchen, für „Verlorene“ hält?

Die Kinder, die Ethik besuchen (müssen), müssen gemäß Zöllners Logik „Gerettete" sein. Ist der Berliner Ethikunterricht ein staatseigener Zivilreligionsunterricht – und der konvertierte Bildungssenator sein Prophet?

Der Autor ist Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Humboldt-Universität. Bei der Berlin University Press ist sein Buch „Sind Religionen gefährlich?“ erschienen.

Rolf Schieder

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