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POSITIONEN: Europas Biedermeier

Das Projekt EU kann scheitern: Hasardeure wie Lafontaine und Kaczynski betreiben das Auseinanderbrechen aktiv. Und der Rest Europas zieht sich in einen Dornröschenschlaf zurück.

Frankreichs Präsident Sarkozy übernimmt die EU in einer schwierigen Zeit. Wähnten wir uns bereits 2004 nach dem Non und Nee der Franzosen und Niederländer am Tiefpunkt, hat nun das No der Iren zum Lissabon-Vertrag die Europapolitiker kalt erwischt. Wenn drei so unterschiedlich geprägte Länder den Reformvertrag ablehnen, muss das tiefer sitzende Gründe haben als Details in Abstimmungsvorschriften und Kompetenzzuweisungen. Hinzu kommt die Blockade des Bundesverfassungsgerichts, das unvermittelt in eine neue Rolle geraten ist – die des Beschützers der Europagegner. Hinter seiner Bitte an den Bundespräsidenten, mit seiner Unterschrift zu warten, hat Polens Präsident Lech Kaczynski Schutz gesucht und verweigert seine Unterschrift nun ebenfalls.

Eine solche Krise Europas muss tiefere Gründe haben als ein paar Details im Vertrag. An Begründungen mangelt es ja auch nicht: Undemokratisch, bürgerfern, unsozial, bürokratisch sei sie, die EU. Gerade in bürgerlichen Kreisen gehört Nörgeln über Europa längst zum guten Ton. Private Vorteile der EU – gerne, aber darüber hinaus möchte man sich möglichst wenig mit Brüssel befassen. Ein nie da gewesener Lebensstandard, Urlaub ohne Geldumtausch und Passkontrolle, das Erasmus-Stipendium – die Vorteile der EU sind handfest. Vom Frieden mal ganz zu schweigen. Sogar das gute deutsche Gefühl, noch einmal Exportweltmeister zu sein, bevor China uns im nächsten Jahr überholt, verdanken wir Europa, denn über 60 Prozent unserer Exporte gehen in den Binnenmarkt. Doch dass aus Rechten auch Pflichten erwachsen, wird nicht gesehen.

Eines verbindet die drei Referenden mit negativem Ausgang (es gab, das wird gerne vergessen, auch solche, die der Verfassung zustimmten): Bei jedem von ihnen gab es eine große Bereitschaft, teilweise absurder Polemik oder glatten Unwahrheiten Glauben zu schenken. Ein Grund hierfür ist die geradezu sträfliche Nachlässigkeit, mit der die Befürworter in den drei betroffenen Ländern ihre Kampagnen führten, vor allem, weil sie eine Gefahr vollständig ausblenden: Das Projekt EU kann scheitern. Habsburger, Ottomanen, Sowjets: viele Reiche, Allianzen und Bündnisse, die ihren Zeitgenossen als unauslöschlich galten, gibt es nicht mehr. Auch das Auseinanderbrechen der EU ist denkbar, so denkbar, dass Hasardeure wie Lech Kaczynski, Oskar Lafontaine und David Cameron es aktiv betreiben. Und sie haben Erfolg damit, denn der Rest Europas genießt wie im Biedermeier eine beispiellose Friedensdividende und zieht sich in den privaten Dornröschenschlaf zurück.

Dabei sind die Gefahren, denen Europa ausgesetzt ist, virulent – außenpolitisch,wirtschaftlich, umweltpolitisch. Das Nein zum Lissabon-Vertrag verschlechtert Europas Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit diesen Herausforderungen erheblich. Da dies das Biedermeierleben der Menschen aber nicht sichtbar berührt, nutzen sie die Chance, „denen in Brüssel“ einen Denkzettel zu verpassen. Schließlich meinen viele, sich so auch gegen die Globalisierung wehren zu können, die unsere Idylle so empfindlich stört.

Das ist Unsinn, gibt es doch ernste Probleme, die gelöst werden müssen. Spätestens nach Lissabon muss ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten mit Formen abgestufter Mitgliedschaft kommen – bei 27 und mehr Mitgliedern geht es nicht anders. Mehr Bürgerbeteiligung tut not, mehr Transparenz; mit dem europäischen Bürgerbegehren und mehr Rechten für die Parlamente geht Lissabon in die richtige Richtung.

Die bürgerliche Gegenbewegung zum Biedermeier sammelte im Vormärz jene, die für Veränderung und Verbesserung stritten. Ein europäischer Vormärz muss zweierlei schaffen: Verbesserung und Erfolg. Ein Scheitern wie 1848 darf es nicht geben. Scheitert die EU, scheitert auch Europa – und damit die Politik insgesamt, ob national oder europäisch. Das würden uns die Historiker der Zukunft nicht verzeihen.

Der Autor ist Mitglied des Europaparlaments und Bundesvorstandsmitglied der FDP.

Alexander Graf Lambsdorff

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