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POSITIONEN: Kinder, Kekse und Kommerz

Die bevorzugte Freizeitaktivität von Kindern in den Industrie-und Entwicklungsländern ist heute das Fernsehen. Das kreative Spiel ist gefährdet – wir müssen es retten!

Viele gesundheitliche und soziale Probleme, unter denen Kinder heute leiden, hängen mit der Werbung zusammen. Die Weltgesundheitsorganisation und andere Institutionen der öffentlichen Gesundheit sehen in der Werbung einen signifikanten Faktor für die weltweit unter Kindern und Jugendlichen grassierende Fettsucht. Darüber hinaus werden Werbung und Marketing mit Essstörungen, Sexualisierung, Jugendgewalt, familiärem Stress sowie Alkohol- und Tabakkonsum in Zusammenhang gebracht.

Mit am besorgniserregendsten aber ist, dass die Werbung das für eine gesunde Entwicklung essenzielle kreative Spielen untergräbt. Allerdings gewinnt langsam eine Bewegung an Zulauf, die die Kindheit vor den Werbestrategen retten und das praktische, unstrukturierte, von den Kindern selbst bestimmte „So-tun-als-ob“-Spielen bewahren und sogar fördern will. Weil das Spielen kulturell universell und grundlegend für das kindliche Wohlergehen ist, haben die Vereinten Nationen das Recht auf Spielen in der 1989 verabschiedeten Kinderrechtskonvention in die Liste der garantierten Rechte aufgenommen. Spielen zu können ist ausschlaggebend für eine gesunde Entwicklung. Spielende Kinder können Kekse aus dem Nichts herbeizaubern oder mit für alle anderen unsichtbaren Wesen reden und dabei in der realen Welt verwurzelt bleiben. Sobald Kinder die Fähigkeit entwickeln, einen Gegenstand gleichzeitig als das zu sehen, was er ist, und als das, was er sein könnte, sind sie in der Lage, die Welt um sich herum so zu verändern, dass sie ihnen hilft, ihre Träume und Hoffnungen zu stärken und ihre Ängste zu besiegen.

Bisher ging man davon aus, dass sich Kinder in ihrer Freizeit hauptsächlich mit selbstbestimmten beziehungsweise freien Spielen beschäftigen, für die sie von innen heraus motiviert sind. Nun aber scheint das zum ersten Mal in der Geschichte nicht mehr der Fall zu sein. Zwischen 1997 und 2002, also in gerade einmal fünf Jahren, ging in den USA die Zeit, die Sechs- bis Achtjährige mit Rollenspielen verbringen, um rund ein Drittel zurück. Wie eine Umfrage in 16 Ländern ergab, beschäftigen sich nur noch 27 Prozent der Kinder mit Fantasiespielen und sind nur 15 Prozent der Mütter überzeugt, dass Spielen wichtig für die Gesundheit ihrer Kinder ist.

Kein Wunder: Die digitale Revolution hat eine beispiellose Ausweitung des Kommerzes im Leben von Kindern ausgelöst. Im Jahr 1983 beliefen sich in den USA die Ausgaben für Werbung, die vor allem auf Kinder zielte, auf rund 100 Millionen Dollar, ein Klacks im Vergleich zu den 17 Milliarden Dollar, die US-Unternehmen heute dafür ausgeben, um ihre Produkte an das Kind zu bringen.

Und: Die bevorzugte Freizeitaktivität von Kindern in den Industrie- wie in den Entwicklungsländern ist heute das Fernsehen. Abgesehen vom Schlafen verbringen Kinder in den USA mehr Zeit mit Fernsehen als mit irgendeiner anderen Tätigkeit: pro Woche rund 40 Stunden. Ebenso erschreckend: 19 Prozent der Kinder unter einem Jahr haben ein Fernsehgerät in ihrem Zimmer stehen. Wie Studien zeigen, verbringen Kinder umso weniger Zeit im kreativen Spiel, je mehr sie sich mit dem Bildschirm auseinandersetzen. Im Gegensatz zu andern Medien wie Büchern, Zeitschriften oder dem Radio, die vom Nutzer verlangen, sich Klänge oder Bilder selbst vorzustellen, nehmen Bildschirmmedien der Fantasie alle Arbeit ab.

Für frühere Elterngenerationen war es selbstverständlich, dass ihre Kinder in der Freizeit spielten. Das hat sich geändert. Das kreative Spiel ist eine gefährdete Art, und es erfordert einen großen Einsatz, um es künftigen Kindergenerationen zu bewahren. Wenn Millionen von Kindern ohne freies, kreatives Spielen aufwachsen, führt das in eine Welt ohne Freude, kritisches Denken, Individualität und Bedeutung.

Die Autorin unterrichtet an der Harvard Medical School und engagiert sich in der „Campaign for a Commercial-Free Childhood“. Dies ist eine Kurzfassung ihres Beitrags aus dem Bericht „Zur Lage der Welt 2010 – Einfach besser leben: Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil“.

Susan Linn

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