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Meinung: Positionen: Modernes Denken (3): Pluralistisch sein oder gar nicht sein

Wie wird unsere Zukunft aussehen? Welche Chancen, welche Gefahren, welche Antworten gibt es?

Wie wird unsere Zukunft aussehen? Welche Chancen, welche Gefahren, welche Antworten gibt es? In einer gemeinsamen Serie mit DeutschlandRadio Berlin unter dem Titel "Modernes Denken" gehen prominente Autoren diesen Fragen nach. Zu hören sind die Beiträge jeweils am Sonntag um 12 Uhr im Deutschland-Radio Berlin (UKW 89,6).

Eine Formel geht um in Europa: die Formel "Föderation von Nationalstaaten". Der Schöpfer der Formel ist Jacques Delors, der frühere Präsident der Europäischen Kommission. Er beschreibt damit das Ziel, auf das sich die Europäische Union hin entwickeln soll. In Deutschland haben sich zuerst Außenminister Joschka Fischer, dann Bundespräsident Johannes Rau, in Frankreich zuletzt der sozialistische Ministerpräsident Lionel Jospin die Formel zu eigen gemacht. Europa wird nicht gegen die Nationen gebaut, sondern mit ihnen und durch sie; die Nationalstaaten werden nicht in Europa aufgehen, Europa wird vielmehr auch künftig aus Nationalstaaten bestehen: Darin sind sich Berlin und Paris mittlerweile einig. In anderen Fragen, die das Ziel, die "Finalität", des europäischen Integrationsprozesses betreffen, gehen die Meinungen beider Länder aber noch auseinander. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat kürzlich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der SPD vorgeschlagen, die Europäische Kommission in eine echte, parlamentarisch verantwortliche Regierung und den Europäischen Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, in eine europäische Staatenkammer, also eine zweite Kammer neben dem Europäischen Parlament, zu verwandeln. Das Parlament soll mehr Rechte, obenan die volle Budgethoheit, erhalten. Die Ähnlichkeit mit der Aufgabenverteilung zwischen Bundestag und Bundesrat fällt ins Auge. Frankreich ist kein Bundesstaat, sondern die vielzitierte "eine und unteilbare Republik". Folglich sind die französischen Vorstellungen von Europa weniger föderalistisch als die deutschen. Jospin möchte dem Europäischen Parlament einen Kongress aus Vertretern der nationalen Parlamente und eine ständige Ministerkonferenz zur Seite stellen. Dem Europäischen Rat will er sogar noch mehr Rechte, darunter das der Auflösung des Europäischen Parlaments, einräumen. Eine gewisse Parlamentarisierung wünscht aber auch er: Der Präsident der Europäischen Kommission soll künftig aus der Mehrheit des Europäischen Parlaments hervorgehen. Da sich Frankreich und Deutschland einig sind, dass Europa eine Verfassung erhalten soll, müssen sie sich um einen Ausgleich ihrer Vorstellungen von den künftigen Aufgaben von Kommission, Rat und Parlament bemühen. Die Deutschen täten gut daran, auf den Versuch zu verzichten, Europa nach dem Vorbild des deutschen Föderalismus zu formen. Denn Frankreich und Großbritannien denken nicht daran, sich mit dem Status eines Bundeslandes zu begnügen. Auch als zweite Kammer würde der Europäische Rat sehr viel mehr Rechte haben als der Bundesrat. Nur bei viel gegenseitiger Kompromissbereitschaft wird es eine deutsch-französische Formel für die Finalität des Integrationsprozesses geben. Eine solche Formel würde das übrige Europa noch nicht binden, aber ohne deutsch-französischen Konsens wird sich die Europäische Union nicht weiterentwickeln. Eine europäische Verfassung ist auf eine europäische Öffentlichkeit angewiesen, die es noch nicht gibt. Der Diskurs über eine europäische Verfassung kann zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit wesentlich beitragen. Eine europäische Öffentlichkeit setzt ein Bewusstsein von europäischer Identität voraus. Es gibt diese Identität. Sie ist das Ergebnis einer gemeinsamen Geschichte - einer Geschichte von gewachsenen Gemeinsamkeiten, aber auch von ausgetragenen Konflikten. So ist zum Beispiel die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt im christlichen Mittelalter zur Keimzelle des westlichen Verständnisses von Freiheit und Pluralismus geworden. Europa wird pluralistisch sein oder es wird nicht sein. Dass in Europa gerade jetzt verstärkt über Finalität und Identität der Union nachgedacht wird, ist kein Zufall. Die bevorstehende Erweiterung der Europäischen Union erzwingt förmlich eine Reform der europäischen Institutionen. Die Union, so wie sie zur Zeit organisiert ist, würde schon nach der ersten Erweiterungsrunde kaum noch handlungsfähig sein. Bei 25 bis 30 Mitgliedern wäre sie ein gelähmter Koloss. Die Erweiterung der Europäischen Union verlangt aber nicht nur die Vertiefung des Integrationsprozesses, sondern auch eine Vertiefung des europäischen Bewusstseins. Die Union ist nicht beliebig erweiterbar. Wer ihr beitritt, muss zu einem europäischen "Wir-Gefühl" fähig und willens sein. Ein solches Gefühl lässt sich nicht von oben verordnen. Es kann sich nur dort entwickeln, wo die Zugehörigkeit zu Europa nicht von breiten Teilen der Bevölkerung grundsätzlich in Frage gestellt oder abgelehnt wird. Unter den Kandidaten für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist die Türkei im Wortsinn ein Grenzfall. Europa ist nicht auf gemeinsame Außengrenzen mit Syrien, Irak und Iran vorbereitet, die Türkei nicht auf das, was ihr eine Mitgliedschaft in der Union abfordern würde. Die Türkei hat andere kulturelle Prägungen und eine andere politische Kultur als das Europa der EU. Die Anpassungsleistungen, die Europa von der Türkei verlangen muss, würden von großen Teilen der türkischen Bevölkerung zurecht als kulturelle Selbstentfremdung empfunden werden. Europa und die Türkei würden sich durch eine türkische Vollmitgliedschaft in der EU wechselseitig mental überfordern. Eine privilegierte Assoziation der Türkei wäre wohl für beide Seiten die bessere Lösung. Viele Reiche sind an ihrer räumlichen Überdehnung gescheitert und zusammengebrochen. Europa ist kein Reich und will keines werden. Aber auch eine Föderation von Nationalstaaten kann Ausmaße annehmen, die ihren inneren Zusammenhalt gefährden. Dabei ist Europa noch nicht einmal eine solche Föderation. Es ist auf dem Weg dorthin und muss sich immer wieder vergewissern, dass es noch der richtige Weg ist. Der Autor ist Professor für Geschichte an der Humboldt-Universität und Mitglied der SPD.

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