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POSITIONEN: Nonne, Mutter, Hure

Feuchtgebiete, Lady Ray und "Sex and the City": ein neuer Feminismus? Fakt ist, auch heute noch haben Frauen gegen die Degradierung zum Objekt zu kämpfen.

Snacks, Sandwichs, Kaffee“ – die Zugbegleiterin preist ihr Angebot an, während sie den Imbisswagen hinter sich her zieht. Doch ich bringe nur ein knappes „Nein danke“ über die Lippen. Jetzt etwas essen – unvorstellbar! Schuld daran ist das vor mir liegende Buch: „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche. All die detaillierten Schilderungen über Rasierwunden im Intimbereich, selbstgebastelte Tampons und Stuhlgang nach Analoperationen wirken alles andere als appetitanregend. Trotzdem kann ich den Blick nicht von den Seiten abwenden, bis zum Ende. Es ist schon faszinierend, dass ein Roman, der in puncto Körperflüssigkeiten so ins Detail geht, zum Bestseller wird.

Wir schreiben das Jahr 2008. Während „Feuchtgebiete“ zum Verkaufsschlager wird, tourt die Rapperin Lady Bitch Ray, die mit ihrem Vagina-Style nicht nur Konservative schockiert, durch die Talkshows. Wobei die Bezeichnung Vagina-Style als geradezu verklemmt erscheint im Vergleich zur sexuellen Direktheit ihrer Statements. Sie schafft, dass sogar Harald Schmidt kurz sprachlos wirkt. Als der Film „Sex and the City“ anläuft, ziehen junge Frauen scharenweise ins Kino. Man muss keine Kennerin der Kultserie sein, um zu wissen, dass es in dem Film vor allem um Sex und Mode geht.

Lady Ray in den Talkshows, Roche auf den Bestsellerlisten und volle Kinosäle bei „Sex and the City“ – was ist nur los mit dieser Frauengeneration? Einst kämpften Frauen dagegen, durch Pornografie zum Sexobjekt degradiert zu werden. Man denke nur an die PorNo-Kampagne von Alice Schwarzer, die vor 30 Jahren startete. Haben sich die Frauen von heute etwa vom Feminismus abgewandt? Eine solche Analyse wäre zu oberflächlich. Die Lage stellt sich anders da.

Fakt ist, auch heute noch haben Frauen gegen die Degradierung zum Objekt zu kämpfen. Auch heute noch verhindern patriarchale Rollenbilder Selbstverwirklichung. Doch mit den Rollenbildern ist es nicht so einfach: Die Rollen, die einer Frau nach patriarchalem Verständnis zur Verfügung stehen, sind limitiert: Nonne, Mutter oder Hure. Alle drei stellen Frauen vor allem in Beziehung zum Mann dar: die Nonne als Braut Jesus, die Mutter als Ehefrau eines Mannes, die Hure als „Braut“ vieler Männer. Die Herausforderung der Emanzipation besteht darin, diese männerfixierten Rollen abzulegen und als selbstbestimmte Akteurinnen in Erscheinung zu treten.

Die PorNo-Kampagne hat damals geholfen, gegen eine Rolle zu rebellieren. Das war ein großes Verdienst. Doch wer meint, der feministische Königinnenweg bestände darin, jede Bedienung eines männlichen Schönheitsideals zu vermeiden, irrt. Letztlich wählt frau damit nur eine andere Rolle: die der Nonne. Und diese Rolle ist genauso patriarchal vorgezeichnet. Dies sei auch jenen gesagt, die meinen, im Namen des Feminismus gegen allzu viel Freizügigkeit zu Felde ziehen zu müssen.

Auch wenn die Protagonistin von „Feuchtgebiete“ freimütig von ihren vielen Sexabenteuern berichtet und Lady Ray mit Sexsymbolen spielt: Diese Frauen lassen sich auf keine Rolle reduzieren. Lady Ray ist nicht nur Rapperin, sondern schreibt gerade ihre Doktorarbeit. Charlotte Roche widersetzt sich sogar dem Enthaarungswahn und besteht auf ihren Achselhaaren. Selbst die Faszination, die von „Sex and the City“ ausgeht, beruht mehr auf der verlässlichen Freundschaft zwischen den vier Frauen als in all ihren Männergeschichten.

Womöglich sind Charlotte Roche und Lady Ray Vorbotinnen eines neuen Feminismus. Dieser Feminismus ist nicht vordergründig. Und ihm fehlt eine programmatische Untersetzung. Er ist auch nicht leicht zu fassen. Einerseits knüpft er an alltagskulturelle Phänomene an und ist leicht zugänglich. Ja, er bedient sogar so manches Klischee, aber immer mit einem übermütigen, spielerischen Gestus, nah an der Grenze zur Karikatur. Andererseits arbeitet er immer wieder mit schockierenden Effekten und führt somit zu Irritationen in Rollenbildern. Womöglich liegt gerade in dieser irritierenden Ambivalenz, in dieser Vielschichtigkeit und Verspieltheit seine besondere Attraktivität.

Die Autorin ist Bundestagsabgeordnete und Vizechefin der Linkspartei.

Katja Kipping

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