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POSITIONEN: So frei, so modern – und so hohl

Ob Roche oder Piraten: Die Kritik hat keine Kriterien mehr

Ich bin nicht gschamig. Ich habe nichts gegen unanständige Texte. Ich empöre mich nicht über Pornografie. Von mir aus können die Leute als Homo oder Hetero ins Lotterbett steigen. Sollen sie überzwerch oder unterzwerch sexuell selig werden, sollen sie bis zum G-Punkt darüber schreiben, sollen sie mit ihren exhibitionistischen Erzählungen hausieren gehen und lukrativste Geschäfte machen. Es ist mir schnurzegal. Doch wenn angesehene Kritiker in hochmögenden Zeitungen, in Rundfunk- und Fernsehsendungen diesen Schrott zur großen Literatur erheben, dann bin ich auf den Barrikaden.

So geschehen jüngst nach der Lektüre des sonst so erhabenen Feuilletons der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Offenkundig waren deren Redakteure von irgendeinem Teufelchen der untersten Niveauschublade geritten. Wie anders hätte das Blatt sonst gleich zwei Mal jeweils eine ganze Seite den pornografischen Ergüssen der Charlotte Roche opfern können. In deren Mittelpunkt, so die Rechtfertigung, stünden natürlich keineswegs die bewussten „Stellen“. Vielmehr gehe es um ein bedauernswertes weibliches Wesen, das seine Lebens- und Vergangenheitsprobleme nur mit höchst aparten Sexpraktiken in den Hintergrund zu drängen vermag. Darauf muss man erst einmal kommen.

Warum aber bejubeln die lieben Kolleginnen und Kollegen diesen hohlen Käse? Warum sendet das öffentlich-rechtliche Deutschlandradio Kultur die heuchlerische Entrüstung der Frau Charlotte über das kommerziell gestützte Frauenbild, das junge Mädchen angeblich reihenweise ins Unglück treibt?

Die Kritik hat ihre Maßstäbe über Bord geworfen. Die Kritik hat schon im Fall Hegemann versagt. Die Kritik versagt im Falle Roche zum zweiten Mal. Sie versagt, weil sie aus lauter Langeweile auf alles anspringt, was neu, was schrill, was grell, was überreizt, was quer ist. Die Kritik, vornehmlich die junge Kritik versagt, weil sie ohne Distanz ist. Sie nimmt den literarischen Gegenstand nicht ins Visier, sondern will sich selbst in ihm wiedererkennen. Man schüttelt sich die Hand. Umarmt sich. Grüß Gott, was sind wir doch alle miteinander so wahnsinnig bedeutend!

So herrlich frei. So unglaublich modern. Ein Spaßbündnis ist’s und ebenso ein Signal für Gewichtigeres. Denn in der Politik, wo es nicht nur um Geschmack und Niveau, sondern um unser aller Wohl geht, spielt sich Vergleichbares ab. Da kassiert die Piratenpartei in Berlin fast neun Prozent. Erfolge im Bund sind von den Meinungsforschern schon angekündigt. Es ist eine Partei, die kein Programm hat und keine Antworten weiß. Außer ihrer Leidenschaft für den Computer haben die Jungs – und es sind wieder mal überwiegend Jungs – nichts zu bieten. Gar nichts. Und die Kritik, dieses Mal die politische Kritik, lächelt milde. Sie setzt die Burschen in allen Nachrichten ins Fernsehbild. Sie baut darauf, dass ihnen noch etwas einfallen wird. Sie sieht in ihnen eine Wiedergeburt der Grünen, was aberwitzig ist, denn die Grünen hatten ein Programm, als sie ins Bonner Parlament einzogen. Die Piraten jedoch säen nicht, ernten nicht, sammeln auch nicht in die Scheunen. Aber die lieben Kollegen von der politischen Kritik – mit wenigen Ausnahmen – schonen sie doch.

Denn auch die Piraten sind neu, sind schrill, sind anders als alle anderen Parteien. Sie geben sich zeitgemäß, sie wollen Repräsentanten des Zeitalters der Computer sein. Der PC ist ihr Fetisch und das Web ihre Religion. Viele, die sonst nichts anzubeten und anzubieten haben, fühlen sich von ihnen angesprochen. Ja, das sind wir, das ist unsere Generation, darin bespiegeln wir unser gefährdetes Ich. Beim Genuss solcher Wonnen wird dann gern übersehen, dass die Piraten – im Angesicht der erschreckenden und höchst komplizierten Probleme dieser Welt – nichts als heiße Luft verkaufen. Ein Skandal, dass sie trotzdem gewählt werden. Noch viel skandalöser ist es jedoch, dass die politische Kritik das Phänomen ihres Erfolgs halb amüsiert hinnimmt und den einäugigen, verantwortungslosen Egoismus der Partei nicht kämpferischer entlarvt.

Und wieder schreitet die ehrwürdige „Frankfurter Allgemeine“ voran, wenn sie diesem unpolitischen, also demokratiefeindlichen Trend noch einen besonderen Kick verleiht und dieser Tage einem größenberauschten Oberpiraten das Forum einer ganzen Seite für seine kenntnisarmen Attacken auf die etablierte Politik bietet. Unser schönes Grundgesetz wendet sich mit Grausen.

Aber muss man da nicht mithalten, um aktuell und modern zu sein? Und ist es nicht auch populär? Mag sein. Dem Volk, dem ach so lieben und ach so guten, zumal in den großen Zeiten der Volksbefragungen, sollen seine Neigungen fürs Hohle auch verziehen sein. Vorerst. Den unkritischen Kritikern indes verzeihen wir nimmermehr.

Die Autorin ist Publizistin und lebt in Stuttgart.

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