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Meinung: Psycho II

Wieder Terror in London – und er hat ein europäisches Gesicht

In der Ära des Terrors zu leben: Die Londoner haben gestern erneut erfahren, was das bedeutet. Es heißt, in Bussen und U-Bahnen nach verdächtigen Taschen Ausschau zu halten. Es heißt, andere Fahrgäste misstrauisch zu mustern. Es heißt auch, dass jeder erneute Anschlag die Erinnerung an die vergangenen wachruft und multipliziert.

Nach allem, was man bisher aus London weiß, waren gestern wohl Nachahmungstäter am Werk, deren Anschläge in Ausmaß und Wirkung nicht mit denen vergleichbar sind, die vor genau zwei Wochen verübt wurden. Und doch werden die psychologischen Folgen für die britische Gesellschaft ähnlich gravierend sein. Weil wir in solchen Momenten eine an die Existenz gehende Machtlosigkeit empfinden, vor der uns selbst die hochentwickelte Technik, die uns überall umgibt, nicht zu schützen weiß. Und der Terror stößt uns auch darauf, wie fein austariert die Mechanik der modernen Gesellschaft ist, die das Funktionieren unserer Wirtschaft, unserer Politik, unseres Lebens erst ermöglicht. Und wie vergleichsweise wenig es braucht, um dieses subtile Zusammenspiel aus dem Takt zu bringen.

In den letzten zwei Wochen ist viel geschrieben worden über die gesellschaftlichen Ursachen des islamistischen Terrors. Es wird immer deutlicher, dass Großbritannien nicht so sehr den Preis zahlt für den Irakkrieg, sondern den Preis für die liberalste Asyl- und Einwanderungspolitik in Europa. Nirgendwo sonst wurden in den 80er und 90er Jahren so viele potenzielle muslimische Radikale ins Land gelassen, die vor den Unterdrückungsregimen in Nah- und Mittelost in den zwar verhassten, aber sicheren Westen flohen. Nirgendwo konnten sie ihre Hassparolen so frei verbreiten.

Immer deutlicher wird auch, dass diese Ideologen eines neuen Faschismus mit islamischer Prägung intensiv unter jungen Muslimen agitieren und besonders bei manchen Einwandererkindern der zweiten und dritten Generation damit Erfolg haben. Bei jenen also, die weder in der traditionellen muslimischen Kultur ihrer Väter und Mütter zu Hause sind noch in der ihres Gastlandes. Es ist also auch an der Zeit einzugestehen, dass der islamistische Terrorismus, der aller Wahrscheinlichkeit nach für die gestrigen Anschläge verantwortlich ist, auch ein genuin europäisches Gesicht hat.

Ob diese Jugendlichen in Europa wirklich benachteiligt sind oder ob man ihnen den Opferstatus nur einredet, ist so pauschal nicht zu sagen. Jedenfalls übt die islamistische Ideologie für manche jungen Muslime heute eine ähnliche Anziehung aus, wie es früher linke revolutionäre Botschaften taten. Sich den Hasspredigern anzuschließen, ist aber nicht nur eine Rebellion gegen „die Verhältnisse“ in der europäischen Diaspora und der Welt, es ist ebenso eine Auflehnung gegen das traditionelle, privatistische Religionsverständnis der eigenen Eltern.

Der Islam in seiner ideologisierten, politischen Form bietet diesen Jugendlichen nicht nur eine neue Heimat, sondern auch einen großen Weltenplan, in dessen Dienst sie sich stellen können. Anders als der Linksterrorismus der Brigate Rosse oder der RAF, anders auch als der aktuelle Rechtsradikalismus hat dieser Totalitarismus zudem noch eine metaphysische, religiöse Komponente zu bieten, die der Gewalt einen theologischen Sinn zu geben scheint.

Der Linksterrorismus hat gezeigt, wie sektenartig die Zellen organisiert waren, wie wenig erreichbar für rationale Argumente. Viele schockierte Muslime in Europa benutzen den Begriff der „Gehirnwäsche“, wenn sie zu erklären versuchen, was ihre radikalisierten Glaubensbrüder heute zu Attentätern, gar Selbstmordattentätern werden lässt. So manche dieser Gehirnwäschen beginnen in ganz normalen Moscheen unter der Anleitung von Imamen oder Laienpredigern, die ihrem Hass auf den Westen eloquent Ausdruck verleihen. Diesen Anfängen zu wehren, ist auch die Aufgabe moderater Muslime, nicht nur der in Großbritannien.

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