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Russlands Präsident und Europa-Schreck Wladimir Putin.

© AFP

Putin und der Westen: Russland hat keinen Traum

Chinesen, Amerikaner und Europäer eint etwas – sie haben einen Traum. Davon, dass Ehrgeiz, Moral und Freiheit zählen. Oder dass es Frieden und Stabilität gibt. Wladimir Putin dagegen träumt nicht, meint Malte Lehming. Russlands Politik ist geprägt von Rechthaberei und Zynismus.

Es geht um Werte und Visionen, Träume und Traditionen. Doch am Anfang steht eine kleine, wunderbare Anekdote. Im September 2012 wurde der amerikanische „New York Times“-Kolumnist Thomas Friedman in der chinesischen Metropole Schanghai zu einem Abendessen eingeladen. Die Gastgeberin, Peggy Liu, ist eine gute Bekannte von ihm und Vorsitzende einer gemeinsamen amerikanischchinesischen Umweltschutzorganisation, die sich mit Fragen der Nachhaltigkeit, sauberen Energie und grünen Technologie befasst. Daraus wurde das Konzept eines „chinesischen Traums“ entwickelt, über den man auch an jenem Septemberabend in Schanghai diskutierte.

Kurze Zeit später, am 2. Oktober 2012, veröffentlichte Friedman in seiner Zeitung eine Kolumne mit dem Titel „China Needs Its Own Dream“. Weil der Ressourcenhunger der rapide wachsenden chinesischen Mittelschicht – von 300 Millionen auf 800 Millionen im Jahr 2025 – entsprechend groß werde, müsste sich der chinesische Traum allerdings stark vom amerikanischen unterscheiden („großes Auto, großes Haus und Big Macs für alle“). Ausdrücklich richtete Friedman seine Aufforderung an den damaligen Vizepräsidenten Xi Jinping, von dem freilich feststand, der nächste Staats- und Parteichef zu werden.

Vielleicht war diese Kolumne eine der einflussreichsten, die je geschrieben wurden. Xi Jinping griff das Stichwort jedenfalls rasch auf. Am 29. November 2012, zwei Wochen nach seiner Ernennung, sagte er während einer Ansprache im Nationalmuseum in unmittelbarer Nähe zum Tiananmenplatz: „Der chinesische Traum ist die große Erneuerung der chinesischen Nation.“ Knapp vier Monate später, in einer Rede vor dem Nationalen Volkskongress, war der „chinesische Traum“ dann Xis großes Thema. Seitdem spricht das ganze Land darüber. In Schulen werden Vortragswettbewerbe darüber veranstaltet, in Universitäten Seminare absolviert, in Zeitungsspalten Debatten geführt.

Ein Land sucht nach seiner Bestimmung, seiner Identität. Bildung, Arbeitsplätze, Umwelt: Das entwickelte Xi als Prioritäten auf dem Weg zu einem „reichen, starken, demokratischen, zivilisierten und harmonischen sozialistischen modernen Land“. Kurz vor seinem Deutschlandbesuch fügte er die „Entwicklung einer multipolaren Welt“ hinzu, durch die Frieden und Stabilität gefördert würden.

Vieles an Xis „chinesischem Traum“ ist vage, manches für westliche Ohren widersprüchlich. Aber wichtig ist: Xi will, dass überhaupt geträumt wird, dass die Menschen das Recht und die Pflicht haben, sich und ihr Land über den Alltag, die Familie und das Geldverdienen hinaus in die Zukunft zu entwerfen. Das setzt voraus, dass über Werte und Ideale gesprochen wird. Und das ist in einem totalitären, offiziell immer noch kommunistischen Land eine kleine Revolution.

Der „American Dream“ ist legendär. Er hat mit Ehrgeiz, Arbeit, Moral, Erfolg, Individualismus und Freiheit zu tun. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ist überschrieben mit dem Streben nach Freiheit und Glück. Der „American Dream“ hat integrative Funktionen – alle Menschen sind gleich, jeder Einwanderer kann es vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen –, und er enthält gelegentlich missionarische Elemente – von Martin Luther Kings Rede „I Have a Dream“ bis zur „Freedom Agenda“ von George W. Bush. Außerdem ist er ein beliebtes Motiv in der Populärkultur – von „Easy Rider“ über „Pretty Woman“ bis „Das Streben nach Glück“.

Weitaus weniger explizit, aber durchaus vorhanden ist ein europäischer Traum. Die Überwindung von Krieg und Feindschaft durch Kooperation, Verzahnung, Interdependenzen. Die Betonung von Multilateralismus, Völker- und Menschenrechten, von Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Umweltschutz und viel globaler Verantwortung.

Wer träumt, tritt mit denen, die ebenfalls träumen, in einen Kommunikationsraum, in dem sich disputieren, debattieren und streiten lässt. In diesem Sinne sind sich Amerika, Europa und China bei allen Unterschieden durchaus nahe. Selbst ausgeschlossen dagegen – und das ist die deprimierendste Lehre der vergangenen Wochen – hat sich Russland. Wladimir Putin träumt nicht. Seine Rede zur Krimeinverleibung ist von Rechthaberei, Zynismus und Werterelativismus durchtränkt. In einer Mischung aus Neid und Minoritätskomplex beschimpft er die Amerikaner – „Sie glauben an ihre Erwähltheit und Exklusivität, daran, dass sie die Geschicke der Welt lenken dürfen und daran, dass immer nur sie allein Recht haben können.“ Alles andere ist retro.

Russland ist ein Obervolta mit Raketen, Erdöl und Erdgas. In Putins blankem Oberkörper erschöpft sich die gestalterische Ambition dieses Präsidenten – sich bei Gelegenheit auf die Brust trommeln zu können. Wann endlich erlaubt auch er sich einmal zu träumen?

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