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Querschnittslähmung: Gebremste Nerven

Das Schicksal von Samuel Koch ist leider kein Einzelfall. Allein in Deutschland kommt es nach Unfällen zu mehr als tausend Querschnittslähmungen im Jahr. Warum der Kandidat aus "Wetten, dass…?" gelähmt bleiben wird.

Nach dem schweren Unfall des 23-jährigen Samuel K. bei „Wetten, dass…?“ wechselten sich gute und schlechte Meldungen beinahe stündlich ab. Als Thomas Gottschalk die Live-Sendung abbrach, beruhigte er das Publikum noch mit den Worten: „Er ist ansprechbar, er spürt seine Beine.“ Am nächsten Tag traten jedoch Lähmungserscheinungen auf. Die Ärzte der Düsseldorfer Uniklinik entschieden sich für eine Notoperation, bei der die verletzten Halswirbel mit einer Metallplatte fixiert wurden. Danach gab es die hoffnungsfrohe Mitteilung, bei der Operation sei „technisch alles perfekt“ gelaufen.

Dann verschlimmerten sich die Lähmungen an Armen und Beinen jedoch massiv. Das Rückenmark schwoll immer weiter an, der Druck auf die empfindlichen Nervenfasern stieg. Weil das Rückenmark sich im knöchernen Wirbelkanal nicht ausdehnen kann, kommt es zu Störungen der Blutversorgung, wodurch sich die Schwellung weiter verstärkt. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, öffneten die Ärzte in einer zweiten Operation den knöchernen Wirbelkanal – doch der Student blieb weiter gelähmt.

Als ihr Patient schließlich in ein Spezialzentrum für Querschnittsgelähmte in der Schweiz geflogen wurde, äußerten sich die Düsseldorfer Ärzte wieder verhalten optimistisch. Es habe „Hinweise auf eine diskrete Bewegung an einem Bein“ gegeben, sogar von einer Chance auf „Heilung“ war die Rede. Gleich nach der Aufnahme stellten die Schweizer Spezialisten jedoch eine andere, niederschmetternde Prognose: Samuel K. wird nie mehr normal laufen können.

Das Schicksal des Wettkandidaten ist leider kein Einzelfall. Allein in Deutschland kommt es nach Unfällen zu mehr als tausend Querschnittslähmungen im Jahr. Besonders gefährdet sind Motorradfahrer und Reiter, aber auch der Sturz vom Turngerät oder der Sprung ins flache Wasser kann mit einem „Genickbruch“ enden. Typischerweise haben die Verunglückten sofort starke Nackenschmerzen und spüren ihre Beine nicht mehr. Wenn die Gefühlsstörungen und Lähmungen – wie im Fall des Samuel K. – erst später auftreten, deutet das auf eine sekundäre Schädigung der Nerven hin, etwa durch Druck auf das Rückenmark infolge einer inneren Blutung.

Ob und wie weit sich die Lähmungserscheinungen wieder zurückbilden, ist unmittelbar nach dem Unfall nicht vorhersagbar. Manche Patienten erholen sich trotz mehrfacher Wirbelbrüche fast vollständig, andere bleiben gelähmt, obwohl der Schaden eher harmlos aussah. Als wichtigstes Kriterium gilt der Heilungsverlauf: Wenn sich die Lähmungen in der ersten Woche deutlich zurückbilden, stehen die Chancen auf vollständige Heilung gut. Wenn nach sechs Wochen keine Besserung eingetreten ist, bleiben meist schwere Schäden zurück.

Warum das so ist, wurde erst in den 80er Jahren aufgeklärt. Nerven in der Peripherie des Körpers können sich nämlich, im Gegensatz zum Zentralnervensystem (ZNS), nach einer Durchtrennung durchaus regenerieren. Das freie Ende wächst vom Rückenmark aus in der alten Nervenscheide (Markscheide) nach und erreicht zielsicher seine ursprüngliche Kontaktstelle, etwa an einem Muskel oder einer Sinneszelle der Haut. Die Nerven in Gehirn und Rückenmark besitzen jedoch keine Markscheide, an der sie sich beim Nachwachsen orientieren könnten. Deshalb unterdrückt im ZNS ein spezieller Signalstoff den Reparaturmechanismus, damit keine Fehlverbindungen entstehen: „Nogo-A“ (von englisch: no go) verhindert, dass zerstörte Rückenmarksnerven nachwachsen. Querschnittslähmungen bilden sich deshalb nur zurück, wenn die Nerven nicht vollständig durchtrennt waren. Weil sich an der Verletzungsstelle nach ein bis zwei Wochen Narbengewebe bildet, stehen die Chancen für eine Erholung in der Anfangszeit am besten.

Im Tierversuch kann die Regeneration von Rückenmarksnerven durch Antikörper gegen Nogo-A stimuliert werden. Auch mit der umstrittenen Stammzelltherapie zeigen sich erste Erfolge. Allerdings kommen die klinischen Studien, die gerade erst anlaufen, für Samuel K. wohl zu spät. Bleibt zu hoffen, dass sein tragischer Unfall wenigstens zu der Erkenntnis beiträgt, dass die neuen Forschungsansätze unverzichtbar sind.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

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