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Meinung: Rechnung mit zwei Bekannten

100 Tage vor der Wahl: Lafontaine und Gysi, Schwarz und Gelb – oder Rot und Schwarz

Noch gut 100 Tage bis zur Bundestagswahl. Für die Meinungsforscher sieht die Sache klar aus – aus heutiger Sicht. Infratest dimap gibt einem schwarz-gelben Bündnis 54 Prozent der Stimmen, die Forschungsgruppe Wahlen gar 57. Bei der Wechselstimmung im Lande sollte das reichen. 100 Tage vor der Bundestagswahl 1998 – auch da standen alle Zeichen auf Wechsel – führte Rot-Grün klar und ließ sich diesen Vorsprung auch nicht mehr abnehmen. Aber 100 Tage vor der Wahl 2002 führte Schwarz-Gelb mit sechs Prozent vor Rot-Grün. Wie es ausging wissen wir.

Was das sagt? Dass alle Koalitionsüberlegungen von heute ins Ungefähre reichen. Was der Wähler am 18. September entscheiden wird, ist so sicher prognostizierbar wie das Wetter am Wahltag. Gut, es wird wohl nicht schneien. Aber alles andere ist offen, vor allem, seit wir nun wissen, dass erstmals ein Bündnis links von der SPD antreten könnte, vielleicht sogar mit zwei zugkräftigen Spitzenkandidaten, die nicht nur Sektierer an sich zu binden in der Lage sind. Zwei alte Bekannte, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi mit PDS und der SPD-Abspaltung WASG, sind für fünf Prozent gut, vor allem, wenn die SPD weiter auf dem schröderschen Hartz-IV-Kurs bleiben wird.

In einem Fünf-Parteien-Parlament aber ist nicht ausgemacht, dass es zu einer Zweierkoalition nach dem Muster Großer-paktiert-mit-Kleinem reicht. Kommt dann Rot-Rot-Grün? Das freilich wäre wie Feuer und Wasser, ginge nur ohne Gerhard Schröder und Joschka Fischer. Aber mit wem statt dessen? Nein, dann ist eine Neuauflage der großen Koalition der Jahre 1966 bis 1969 wahrscheinlich, mit gleicher parteipolitischer Machtverteilung wie damals, aber einer Frau an der Spitze – und Gerhard Schröder als Außenminister?

Rot-Grün jedenfalls wird in der Sozialdemokratie vermutlich niemand eine Träne nachweinen. Ein rot-grünes Projekt, von dem uns immer wieder wie von einem geheimnisvollen Zaubertrank erzählt wird, aus dem die Protagonisten fortlaufend neue Kraft gewinnen, gab es nie. Eigentlich hatte Gerhard Schröder schon 1998 unter seiner Führung einen Pakt mit der Union schließen wollen, aber es fügte sich dann anders.

Vor allem unvorhersehbare oder unbequeme, von der politischen Tagesordnung diktierte Probleme, hatten SPD und Grüne zu lösen, etwa den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr in einem kriegerischen Konflikt oder die Sanierung der Sozialsysteme. Da sind die unbestreitbaren, die geschichtlichen Verdienste dieser Koalition. Hätte eine CDU-geführte Bundesregierung den Kosovoeinsatz oder die Praxisgebühren und Hartz IV durchsetzen müssen, die Gewerkschaften im Pakt mit der SPD hätten hunderttausende Demonstranten auf die Straße gebracht.

Verlängert man diesen Gedankengang aus der Vergangenheit in die Zukunft, lässt das eine Neuauflage von Schwarz-Rot durchaus wahrscheinlich werden. Mit der SPD ließen sich die unausweichlichen Reformen leichter durchsetzen als mit der FDP, die auch vielen Christdemokraten und Christsozialen zu marktradikal ist. Das entspräche mehr der Tradition dieses Landes, selbst im Konfliktfall am Ende den Konsens zu suchen.

Gerd Appenzeller

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