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Rechter Terror: Gegen das Braune in uns

Ein Jahr nach Thilo Sarrazins Skandalbuch schockieren rechte Terroristen das Land. Die Chance auf eine offene Debatte um gelungene und misslungene Integration ist damit vorerst verschüttet. Dabei brauchen wir das dringend.

Der Gedanke war für den Grünen-Chef Cem Özdemir offenbar zu verführerisch, um zu widerstehen: Thilo Sarrazin, ohne ihn namentlich zu nennen, mit der braunen Mordserie in Verbindung zu bringen. „Ich denke da an ein Buch“, erklärte er in der Talkshow von Günter Jauch, „von einem ganz bekannten Buchautor“ und frage sich, ob es nicht „dazu beiträgt, dass mancher Jugendliche dann glaubt: Ich tu, was andere nur sagen“. Dieser verschwurbelte Vorstoß blieb in der Runde ebenso ohne Echo wie der fatale Versuch des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel im Juli, einen Zusammenhang zwischen dem norwegischen Massenmörder und Islamfeind Anders Breivik und dem Applaus des Bürgertums für Thilo Sarrazin herzustellen. Innerhalb von 24 Stunden hatte das Willy-Brandt- Haus diese Assoziation als Missverständnis aus der Welt geräumt.

Damit ist die Diskussion aber keinesfalls beendet. Im Gegenteil. Das Aufdecken der braunen Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ wird sie neu befeuern, auch wenn die Mordserie lange vor Erscheinen des Buches beendet war. Die meisten Mordopfer sind Türken und die zum Versand bereitliegenden Propagandavideos waren teilweise an Islamische Kulturzentren adressiert. Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab“, mit einer Auflage von 1,3 Millionen das am meisten verkaufte und diskutierte Sachbuch der Nachkriegsgeschichte, wird ein Aufreger bleiben. Dafür will auch der Verlag sorgen. Im Januar 2012 kommt das Taschenbuch mit einem neuen, 30-seitigen Vorwort Sarrazins auf den Markt. Das Ziel des Verlages: Aus dem Bestseller soll ein Longseller werden.

Im Zusammenhang mit der neu entflammten Diskussion über Rechtsextremismus und -terrorismus drängt sich eine Frage auf, die bisher kaum gestellt und noch weniger beantwortet wurde: Hat der Bestseller politische Folgen gehabt, und wenn ja, welche?

Gut ein Jahr nach Erscheinen des Buches zeigt der Daumen der politisch-publizistischen Klasse bei Sarrazin weiter nach unten: Die gängige These ist, er habe mit seinem Buch die Gesellschaft gespalten und Hass und Zwietracht zwischen Deutschen und Muslimen gesät. Indizien für das rauere Klima: Bei Dreharbeiten für das ZDF-Kulturmagazin „aspekte“ wird Sarrazin aus Kreuzberg gepöbelt und in einem Video verbrennt ein palästinensischer Rapper ein Bild des Autors. Auf der anderen Seite schrecken einige Politiker nicht zurück, Sarrazin als geistigen Brandstifter für eine Anschlagsserie auf Berliner Moscheen verantwortlich zu machen. Der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, spekuliert, dass die öffentlichkeitswirksamen Thesen des Ex-Finanzsenators „Impulsgeber“ für die Gewalttaten sein könnten. Und die Linken-Politikerin Ulla Jelpke führte die Moscheeattacken auf die „Hetzkampagne von Sarrazin, Seehofer und Konsorten gegen angebliche muslimische Integrationsverweigerer“ zurück.

Nach der Enttarnung des Jenaer Terror-Trios hat die Diskussion eine neue Schärfe bekommen. Für Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, hat der braune Terror viele Wurzeln, etwa die Unterschätzung des Rechtsradikalismus. Er sieht aber auch einen „indirekten Zusammenhang zwischen den kruden und rassistischen Thesen Sarrazins und seinen gesellschaftlichen Auswirkungen, der militanten Verachtung und Missachtung des Islam“. Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschlands, hat Angst davor, dass der „Nährboden, den Sarrazin mit bereitet hat, zur Gewalt führen kann“. Rechte Einstellungen seien in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Warum die Kluft schon vor Sarrazins Buch groß war, erfahren Sie mehr auf der nächsten Seite.

Meinungsforscher kommen überwiegend zu einer anderen Einschätzung der politischen Folgen des Bestsellers. Die These, dass die Kluft zwischen Deutschen und Muslimen durch den Bestseller tiefer geworden sei, können weder Manfred Güllner (Forsa) noch Richard Hilmer (Infratest dimap) nachvollziehen. „Die Spaltung der Gesellschaft war schon vor Sarrazin da“, sagt Hilmer. Bereits 2010 machten sich 36 Prozent der Bundesbürger „große Sorgen“ wegen der Ausbreitung des Islam. (Diesem Unbehagen entsprangen die Brandanschläge in Mölln und Solingen gegen Häuser türkischer Familien 1992 und 1993 und natürlich auch die Mordserie der braunen Jenaer Zelle von 2000 und 2006.)

Ein noch dunkleres Bild vom Verhältnis Deutsche–Muslime zeichnet eine repräsentative Umfrage der Universität Münster vom Sommer 2010, also wenige Wochen vor dem Erscheinen von Sarrazins Buch. Sie versuchte zu ergründen, wie religiöse Vielfalt in Deutschland, Frankreich, Dänemark, den Niederlanden und Portugal wahrgenommen und akzeptiert wird. Ihre zentrale Erkenntnis: Die Haltung gegenüber dem Islam ist in Deutschland „deutlich kritischer als in allen anderen untersuchten Ländern“. Über 80 Prozent der Deutschen verbinden mit dem Islam negative Eigenschaften wie die Benachteiligung der Frau, Fanatismus und Gewalt. In Westdeutschland haben nur 34 Prozent ein positives Bild von Muslimen, im Osten 26 Prozent. In allen anderen untersuchten Ländern liegt der Prozentsatz über 60.

Der Religionssoziologe Detlev Pollack erklärt diese Einstellungsunterschiede unter anderem mit der „politischen Diskussionskultur“ der Länder. Während in den Niederlanden und Dänemark seit Jahren über Parallelgesellschaften, soziale Durchmischung von Problemregionen und den Grundsatz „Fördern und Fordern“ öffentlich debattiert wird, sind nach Pollacks Beobachtung Integrationsprobleme in Deutschland über Jahrzehnte hinweg „eher heruntergespielt worden“. Es gab „Sagbarkeitsgrenzen“. Ohne öffentlichen Diskurs über Integrationsprobleme aber können sich seiner Auffassung nach „Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Ausländern leicht verfestigen“. Anders ausgedrückt: Die Tabuisierung des Themas muslimischer Einwanderer durch politische Korrektheit hat zur negativen Einstellung der Deutschen gegenüber dieser Migrantengruppe beigetragen.

Aufschlussreich ist, dass das Bild von Muslimen in Ostdeutschland in fast allen Bereichen negativer ausfällt als in Westdeutschland. Das soll nach der Münsteraner Studie vor allem daran liegen, dass nur 16 Prozent der Einwohner dort überhaupt Kontakte zu Muslime hatten. Je weniger Kommunikation, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass Vorurteile durch persönliche Begegnungen und Erfahrungen abgebaut werden. Es ist daher wohl auch kein Zufall, dass die braune Terrorzelle in Jena entstanden ist.

Dagegen, dass das Sarrazin-Buch die Spaltung der Gesellschaft vertieft hätte, spricht auch eine repräsentative Befragung von türkischen Migranten durch das Meinungsforschungsinstitut Data 4U. Im Oktober 2010, also kurz nach dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte, hatten 62 Prozent der Türken hierzulande noch gar nichts von der Kontroverse um den Bestseller gehört – und damit auch keinen Anlass, sich zu entrüsten. Der Grund ist einfach: 80 Prozent der Türken sehen und hören fast nur türkischsprachige Sender. Bei Radio und Fernsehen leben sie in einer Parallelwelt.

Bei den Parteien löste der Bestseller unterschiedliche Wirkungen aus. Während Grüne und Linke ohne Skrupel und interne Konflikte die Rassismuskeule gegen Sarrazin schwangen und die Debatte in der FDP gar nicht stattfand, verirrten sich Union und SPD im breiten Meinungsspektrum der Volksparteien. Die Bilanz der Unionsparteien ist gemischt: ein Verlust an Profil in der Migrationspolitik und ein Gewinn an interner Diskussionsfreiheit. Im Gegensatz zu ihrer sonst vorsichtigen Natur spielte Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Sarrazin-Bashing die Rolle einer Frontfrau – ohne das Buch je gelesen zu haben. Mit Begriffen wie „nicht hilfreich“, „inakzeptabel“ und „dumm“ wollte sie in der Union frühzeitig Disziplin anmahnen, nicht in Sarrazins Horn zu stoßen. Mit der eindeutigen Verdammung hat sich die Kanzlerin an die „Spitze der Anti-Sarrazin-Bewegung gesetzt“, analysiert der CDU-Kenner Gerd Langguth treffend.

Dafür musste die Kanzlerin zahlen. Viele Unionsmitglieder sympathisierten mit Sarrazins Grundpositionen. Die Folge: Die konservative Kompetenz innere Sicherheit ist das Thema Migration in der modernisierten Merkel-CDU nicht mehr profiliert besetzt. „Beim Thema Migration“, analysiert der Emnid-Meinungsforscher Klaus Schöppner, „hat die Mehrheitspartei CDU die Meinungsführerschaft abgegeben. Die Deutungshoheit liegt heute bei den Grünen und den Jungen.“

Die SPD wirkt nach dem gescheiterten Ausschlussversuch Sarrazins noch heute gelähmt und orientierungslos. Der Bestseller ist, findet der Innenexperte Dieter Wiefelspütz, „folgenlos geblieben“. Er sagt auch: „Wir haben eine Gelegenheit verschenkt. Es lohnt sich, intensiv über Migrationspolitik zu sprechen, aber wir tun es nicht.“ Statt über Inhalte zu diskutieren, erfindet Parteichef Sigmar Gabriel symbolische Wiedergutmachungsgesten für den misslungenen Sarrazin-Rauswurf. Er will eine Migrantenquote von 15 Prozent einführen und auf dem Parteitag im Dezember soll eine Genossin mit türkischen Wurzeln zur stellvertretenen Parteivorsitzenden gewählt werden. Mit diesen Reformen von oben schafft er aber nicht die Sympathien aus der Welt, die SPD-Anhänger für Sarrazin und seine Thesen hegen. Bei allen Meinungsumfragen waren sie mehrheitlich gegen seinen Parteiausschluss. Den Applaus bekam Sarrazin nicht nur vom Bürgertum, wie Gabriel immer wieder suggeriert, sondern vor allem von potenziellen SPD-Wählern. Dem Satz etwa „Ein Deutschland ohne Islam wäre besser“ stimmen nach einer Infratest-dimap-Umfrage 51 Prozent mit Haupt- oder Volksschulabschluss zu, 35 Prozent mit Mittlerer Reife und nur 19 Prozent mit Abitur.

Dabei hat Gabriel in den eigenen Reihen einen, der wegen seiner Migrationspolitik höchst populär ist: den Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky. Bei den Berliner Wahlen im September hat er das mit Abstand beste SPD-Ergebnis in allen Bezirken erzielt. Nach Infratest dimap hatte die SPD in den Monaten vor dem Urnengang bei der Migrationspolitik vier Kompetenzpunkte gewonnen – trotz Sarrazin. Im Berliner Senat war der Kultbürgermeister, das weiß Thilo Sarrazin noch aus seinen Zeiten als Finanzsenator, lange Zeit ein „Verfemter und Ausgestoßener“. Inzwischen ist er zwar immer noch ein Außenseiter, aber ein geachteter. Für den SPD-Innenexperten Wiefelspütz könnte „The Big Buschkowsky“ (T-Shirt Aufschrift) mit seiner zupackenden Art sogar zu einer „Symbolfigur für den richtigen Weg in der Migrationspolitik werden“.

Warum Sarrazins Buch politisch nicht folgenlos geblieben ist, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Nicht profitieren konnte von Sarrazins Buch die NPD. Zwar hat die Partei seine Thesen zur Agitation gegen „Überfremdung“ und „Islamisierung“ benutzt, ist damit aber gründlich gescheitert. Bei den diesjährigen Landtagswahlen ist sie in den alten Bundesländern nie über gut zwei Prozent gekommen. Bedeutung hat die NPD nur noch als regionale Protestpartei. Als Wahlkampfhelfer hat Sarrazin bei der NPD nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes „keine große Schubkraft“ entfaltet. Das gilt auch für rechtspopulistische Gruppen wie „Pro Deutschland“. Gegenüber Rechtsextremisten und -populisten haben Autor und Verlag von Anfang klare Trennungslinien gezogen, sowohl politisch als auch juristisch, mit Klagen.

Nach dem Millionenseller ist kein Gesetz und keine Verwaltungsvorschrift geändert worden. Und doch ist das Buch politisch nicht folgenlos geblieben. „Alles, was subkutan vorhanden war“, sagt der Meinungsforscher Richard Hilmer, ist durch Sarrazin „in die Wählerschaft und in die Parteien gedrückt worden und hat dort Konflikte freigelegt – mit Ausnahme der Grünen.“ Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen glaubt, dass die „Sprengkraft“ der Zusammenschau von Integration, Einwanderung und Demoskopie jetzt „erkannt“ ist und eine „distanziert-elitäre Position nicht mehr ausreicht“.

Diese Chance für eine offene Diskussion ist durch die schändliche Mordserie des Jenaer Killertrios erst einmal verschüttet. Deutschland steht unter Schock – angesichts des unvorstellbaren Versagens von Verfassungsschutz und Polizei und der ungeahnten Brutalität der braunen Terroristen. Die Rufe nach einem NPD-Verbot offenbaren, wie ratlos und verunsichert die Nation ist. Von dieser Partei geht derzeit keine Gefahr aus. Bedrohlich ist allein das Gewaltpotenzial von 9500 Neonazis, in Kameradschaften und sog. Freien Kräften organisiert, Brutstätten auch der Jenaer Terror-Trios.

Als Antwort auf die terroristische Herausforderung brauchen wir jetzt drei breite Diskussionen über eine sicherheitspolitische und zwei gesellschaftspolitische Fragen. Erstens: Was sind die Ursachen für das krasse Versagen der Sicherheitsbehörden? Zweitens: Haben wir die Gefahr des Rechtsextremismus wirklich unterschätzt? Drittens und am wichtigsten: Wie führen wir einen ehrlichen und tabufreien Dialog über gelungene und misslungene Integration der rund vier Millionen Muslime in Deutschland?

Klaus von Dohnanyi hat die Sarrazin-Debatte ein „trauriges Beispiel mutloser Korrektheit“ genannt. Wenn die Empörung über die braune Mordserie abgeebbt ist, müssen wir den Diskurs über Einwanderung und Integration muslimischer Migranten nachholen. Totschweigen ist eine Form der politischen Korrektheit – in der Wirkung ist sie nicht minder verhängnisvoll als die politisch-publizistische Vernichtung des Tabubrechers Sarrazin.

Joachim Wagner ist Journalist und Jurist. Er war bis 2008 stellvertretender Leiter des ARD-Hauptstadtstudios. Von ihm erschien zuletzt "Richter ohne Gesetz. Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat".

Joachim Wagner

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