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Meinung: Rechts fühlen, links wählen

Ein neuer Konservatismus ist enstanden – er ist zahm, tolerant und politisch heimatlos

Acht Monate liegt sie im Koma, dann wacht sie auf. Unterdessen fällt die Mauer. Das zu erfahren, wäre ein Schock. Um das Herz seiner Mutter zu schonen, muss ihr Sohn daher alles tun, um die neue Realität vor ihr zu verbergen. Der Plot ist genial, der Film – „Good Bye, Lenin!“ – ein deutscher Kulturexport. Doch nur in revolutionären Zeiten stellt sich die Welt innerhalb von acht Monaten auf den Kopf. Normale Veränderungen brauchen länger.

In Deutschland hat jemand zehn Jahre im Koma gelegen und wacht nun auf. Was bemerkt er? Themen wie Sozialstaat, Familie, Religion, Bildung, Leistung sind nicht mehr tabu. Ein Deutscher ist Papst, bis in fortschrittliche Kreise hinein wird das Christentum wiederentdeckt. Alle Parteien, bis hin zu den Grünen und der PDS, beschwören den Wert der Familie. Seit dem Pisa-Debakel steht nicht mehr nur die freie Entfaltung des Kindes im Vordergrund. Stattdessen reift die Einsicht, dass Erziehung auch Wissensvermittlung heißt. Und die Mahnung „Der Sozialstaat ist bald pleite!“ hat Gehör gefunden. Eine rot-grüne Bundesregierung kürzt die Bezüge.

Vor zehn Jahren schon steckte Deutschland in der Krise. Nur scheint heute eine Mehrheit vom Ernst der Lage überzeugt zu sein. Das ist neu – und hat einen pikanten Nebenaspekt: Während der Amtszeit von Gerhard Schröder und Joschka Fischer hat sich jener geistig-moralische Wandel vollzogen, von dem die Konservativen einst träumten. Nützt das den Christdemokraten? Nein. Ideologisch sind sie sprachlos. Den kulturell-gesellschaftlichen Diskurs scheuen sie. Angela Merkel bietet sich als bessere Handwerkerin an, das soll reichen. Vielleicht muss es das sogar. Eine Konservative, die von Familie, Religion und Leistung redet, wird rasch als reaktionär verdammt. Unionsmund darf solche Predigten nicht halten. Die Deutschen sind bürgerlich-konservativer geworden, aber das hören sie nicht gern.

Außerdem bahnt sich die Wende erst an. Die Grundströmung im Land ist weiterhin links, liberal, ökologisch. Wer radikalkonservative Werte verträte – christliche Dogmatik, gegen Abtreibung, Homo-Ehe oder Frauenemanzipation –, hätte auf absehbare Zeit keine Chance.

Auch eine CDU-Regierung kann die Militärausgaben nicht erhöhen. Auch sie darf die Bundeswehr nicht in den Irak schicken. Auch sie muss bedenken, dass die Mülltrennung selbstverständlich und Atomstrom unpopulär ist. Auch sie darf nicht drastischer den Sozialstaat reformieren, als es mit Hartz IV geschah. Dafür kann sie es sich leisten, vor der Wahl Steuererhöhungen zu versprechen. In anderen konservativen Parteien des Westens wäre das undenkbar, inzwischen selbst in Skandinavien.

Deutschland wird konservativer, bleibt aber links. Denn das Konservative soll doch keinesfalls unsere Liberalität verdrängen. Darum: Familie ja, aber auch Homo-Ehe. Religion ja, aber auch Atheismus. Hartz IV ja, aber auch Solidarität. Ein duldsamer, toleranter, ökologischer Konservatismus entsteht. Er will gut sein und zahm. Doch weil ihm die Konturen fehlen, haben seine Anhänger parteipolitisch keine Heimat. Das erklärt auch die Umfragen: Obwohl als ausgemacht gilt, dass die jetzige Regierung abgewirtschaftet hat, kommt Rot-Rot-Grün auf stolze 48 Prozent. Und würden allein die Kulturschaffenden im Land befragt und in Medienbetrieben und Universitäten gewählt, könnte Schröder sogar mit Zweidrittelmehrheit an der Macht bleiben.

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