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Nur Verena Becker selbst kennt die Wahrheit - der Prozess kann sich der Wahrheit nur annähern.

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Rechtskolumne "Einspruch": Gerichtsprozesse können die Wahrheit nicht finden

War Verena Becker an der Ermordung von Siegfried Buback beteiligt? Ist Anders Breivik ein Psychopath oder ein Terrorist? Gerichte sollen klären, was sie eigentlich nicht klären können.

Die Vernunft gehört zum Menschen wie der Glaube, und doch fällt es schwer zu begreifen, wie viel Unterschiedliches man darunter verstehen kann. Wahrheit, sagt zum Beispiel der Göttinger Chemieprofessor Michael Buback, entsteht, wenn man Widersprüche auflöst. Wahrheit ist das stimmige Bild. Er ist überzeugt zu wissen, wer seinen Vater erschossen hat. Und wundert sich, dass die Justiz ihm nicht folgen will.

In einem anderen Prozess geht es darum, die Wahrheit im Kopf eines Massenmörders zu erforschen. Ob Anders Breivik an Schizophrenie, Paranoia, einer Psychose, Narzissmus, Autismus oder Tourette leidet, an allem oder an nichts davon, sollen Experten klären. Auch hier herrscht die Erwartung, die Wissenschaft möge ein konsistentes Bild erzeugen. Viele hoffen auf eine Erkrankung. Sie würde die Tat erklären und das größtmögliche Übel für Breivik bedeuten, der Terrorist sein will, ein Überzeugter, der sich anderen Vernünftigen entgegenstellt.

Der Strafprozess soll der Ort sein, an dem solche Wahrheit festgestellt und verbindlich wird. Rational, methodisch korrekt, widerspruchs- und zweifelsfrei. Damit ist die Enttäuschung programmiert. Die Erwartung ist zu hoch. Ein Strafprozess ist keine Wissenschaft. Für Urteile gibt es keine Empirie, weil jeder Fall anders ist, und die Logik, die Buback so oft beschworen hat, findet ihr Grenze dort, wo Wertung wichtig wird.

Widerspruchsfrei, erklärte im RAF-Prozess ein gereizter Bundesanwalt dem beharrenden Nebenkläger, ist es auch, wenn zwei Zeugen dasselbe sagen – und doch kann es gelogen sein. Da hat er recht. Selbst wenn 27 Zeugen dasselbe sagen, wie Buback sie zählte, muss die Wahrscheinlichkeit auf Wahrheit nicht steigen. Wissenschaftler brauchen eine Hypothese, Buback hatte seine – Staatsanwälten ist sie verboten. Sie, so steht es im Gesetz, haben Belastendes und Entlastendes gleichermaßen zu ermitteln.

Es wäre vieles leichter, ließe sich Schuld in einer Art Röntgenverfahren feststellen. Aber es geht nicht, so wenig wie eine psychische Krankheit. Es ist viel Subjektivität im Spiel. Im Fall Breivik irritiert, dass in Deutschland Koryphäen der forensischen Psychiatrie anhand des Breiviklächelns auf Pressefotos Diagnosen stellten. Sie diskreditieren damit die Methoden ihrer Wissenschaft.

Es ist ein Irrtum, dass ein Richter ein Urteil spricht, weil er die Wahrheit weiß. Oft genug zweifelt er, dann spricht er frei. Im anderen Fall ist er von der Schuld eines Angeklagten auch nur überzeugt – so wie Buback von der Schuld Verena Beckers überzeugt ist und ein möglicherweise psychisch gesunder Anders Breivik davon, das Richtige getan zu haben. Am Ende sind es Richter, die entscheiden müssen, keine Chemiker und keine Psychiater. Menschen eben. Mehr Wahrheit gibt es nicht, jedenfalls nicht vor Gericht.

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