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Meinung: Rechtswege: Unsere Kinder, unser Spiegel

An der Universität Hamburg lehrte nach dem Zweiten Weltkrieg Professor Curt Bondy Psychologie. Der jüdische Deutsche war aus der Emigration in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, um beim Wiederaufbau zu helfen.

An der Universität Hamburg lehrte nach dem Zweiten Weltkrieg Professor Curt Bondy Psychologie. Der jüdische Deutsche war aus der Emigration in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, um beim Wiederaufbau zu helfen. Seine Studenten waren unter Hitler aufgewachsen oder hatten ihm als Soldaten gedient.

Es war für den Professor schwer, seine Zuhörer im überfüllten Audimax zu erreichen. Zwischen ihnen und ihm lag das Gebirge der seelischen und geistigen Trümmer, die das Regime hinterlassen hatte, und es war schwer für die Studenten, sich in der Not des zerrissenen und zertrümmerten Landes zu behaupten.

In einer Vorlesung, in der es um die Bedeutung von Kindheit und Jugend für den Menschen ging, begann Curt Bondy mit einem Bild, das Gelächter auslöste und dadurch half, in das Thema hineinzukommen und es zu erfassen.

Curt Bondy zeichnete die steil ansteigende Kurve der Bezahlung derer auf, die mit Kindern, Jugendlichen, Heranwachsenden und jungen Erwachsenen zu tun haben. Und er erklärte diese steil ansteigende Kurve für falsch. Sie müsse umgekehrt verlaufen.

Am höchsten zu honorieren seien die Hebammen und das Personal der Entbindungsstationen. Danach habe die Kurve über die Kindergärtnerinnen, die Lehrer und die Berufsausbilder zu sinken. Bei ihm, dem Professor, müsse sie eigentlich bei Null angekommen sein. Denn was könne er, so wie er vor ihnen stehe und sie anspreche, noch für sie tun?

Über die Jungen der höheren Säugetiere, die in einer Ausreifung zur Welt kommen, für die ein menschliches Kind eine Schwangerschaftszeit von 20 bis 22 Monaten durchleben müsste, ging es dann in das Thema hinein. Und Curt Bondy selbst war ja auch das beste Beispiel dafür, was Ältere für Jüngere bedeuten können. Mit ihm waren Schüler über den Atlantik entkommen, für deren Fortkommen er sich drüben einsetzte. Er sei "ein neuer Moses" für sie gewesen. Einer von ihnen ist noch heute, in hohem Alter, ein verdienstvoller und von den Kollegen, die ihm begegneten, verehrter Berater in der Spitze des Axel Springer-Verlags.

Das Bild der falsch besetzten Kurve der Honorierung war nicht nur lehrpädagogisch klug in der Situation kurz nach Kriegsende. Es macht tatsächlich spürbar, dass die Möglichkeit, auf die Entwicklung des Menschen Einfluss zu nehmen, mit seinem Heranwachsen abnimmt. Und es macht auch darauf aufmerksam, wie wichtig die Einflussnahme von frühester Kindheit an ist und wie bedacht sie sein sollte.

Hans Monath hat im Tagesspiegel am vergangenen Freitag beschrieben, dass das Lager der Regierungsparteien gerade dabei ist, ein Herz für Kinder zu entdecken. Die Grünen wollen den Versuch forcieren, Eltern durch Betreuungsangebote zu entlasten und finanzell zu unterstützen. Das ist unendlich wichtig. Denn mit den Hebammen und den Stationsschwestern der Entbindungsstationen sind natürlich die Eltern die Personen, die sich in einer leidlich unbedrängten Verfassung befinden müssen, um nicht eine Hypothek für das Heran- und Hineinwachsen ihrer Kinder zu sein.

Wer - wie ich - Jahrzehnte in den Gerichtssälen gesessen hat, muss etwas hinzufügen. Spätestens vom 21. Lebensjahr an ist der Mensch für sich voll verantwortlich. Und es ist in Ordnung, wenn es einen Straftäter oder eine Straftäterin nicht entlastet, was an ihnen in Kindheit und Jugend versäumt oder ihnen zugefügt wurde.

Doch der Weg der Straftäter in ihre Tat - er darf nicht verschwiegen werden und in besonderen Fällen ist er auch zu berücksichtigen im Urteil. Eine stärkere Erinnerung daran, wie wichtig Kindheit und Jugend sind, gibt es nicht. Die Vorgeschichten gerade der grässlichsten Straftaten sind eine unüberhörbare Mahnung, unermüdlich um den Weg zu ringen, auf dem Kinder und Jugendliche - möglichst ungefährdet und nicht als eine Gefahr für andere - zu ihrer Verantwortung für sich selbst finden.

Ein Angeklagter hat seinen Vater getötet. Er ist zu bestrafen. Aber es hilft nicht, wenn die Staatsanwältin sagt, der Täter habe dem Gebot zufolge, den Vater ohne Rücksicht darauf zu lieben gehabt, ob er böse oder gut ist. Völlig grundlos habe der Angeklagte Emotionen gegen seinen Vater aufgebaut und aufgestaut.

Doch der Vater war sehr böse. Er hat Fehler begangen, die seinen Sohn nicht entschuldigen, die aber beschrieben werden müssen - damit andere Väter vor diesen Fehlern gewarnt sind. Und damit wir alle daran erinnert werden, wie wichtig es für jeden ist, der mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, wie wir mit ihnen umgehen.

Wer ein Gewächs pflanzt, und es Bedingungen aussetzt, die es verkümmern lassen müssen, darf sich nicht empören. Er muss lernen.

Immer früher geraten heute Kinder und Jugendliche vor Gericht. In der vergangenen Woche waren zwei 16-jährige und ein 21-jähriger zu verurteilen, weil sie in Mecklenburg-Vorpommern einen Obdachlosen mit "nicht mehr zu überbietender Brutalität" getötet haben. Der Teufel fahre eben immer früher in die Ferkel, beruhigt sich mancher. Doch wir sollten eher eine Mahnung darin sehen, uns unserer Verantwortung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen bewusst zu werden.

Gerhard Mauz

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