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Meinung: Reden raten

Alle warten, was der Kanzler zu sagen hat – manche meinen es schon zu wissen

Der Kanzler hat seine Regierungserklärung noch gar nicht gehalten, aber schon frohlocken die einen und opponieren die anderen. Denn Schröders Ankündigungen werden immer konkreter. Wer schon immer niedrigere Steuern und Sozialabgaben, weniger Leistungen in den Sozialsystemen, weniger Staat und mehr private Verantwortung verlangt hat, hofft: Diesmal wird der gordische Knoten durchschlagen.

Andere argwöhnen, aus dem angekündigten Befreiungsschlag werde wohl doch bloß Kahlschlag: Wirtschafts- und Sozialpolitik werde nur noch nach Kassenlage gemacht. Versicherte könnten sich nicht mehr darauf verlassen, mit ihren Beiträgen die elementaren Risiken des Lebens abzudecken. Kranke, Arme und Bedürftige werden mit dem Minimum abgespeist. Oder noch weniger.

Und dann gibt es da noch die Überdrüssigen. Ihnen ist das Reformgerede, das ewige Ankündigen und dann wieder Zerfleddern und Zermahlen mittlerweile zutiefst zuwider. Begleitet vom üblichen Getöse der inner- und außerparlamentarischen Opposition, vom Applaus der nicht Betroffenen und Protesten der Getroffenen werde enorme Aufregung produziert. Und bewegen werde sich mal wieder – nichts.

Alle diese Erwartungen und Befürchtungen haben einen realistischen Hintergrund. Die Reformherbeisehner haben Recht, weil unübersehbar ist, dass der Staat an seine Grenzen geraten ist bei der Finanzierbarkeit des sozialen Netzes. Weil der Staatsverbrauch inzwischen die Wachstumskräfte so einschränkt, dass das Land gar nicht mehr in der Lage ist, so viel Wirtschaftswachstum zu produzieren, dass wirklich neue Stellen entstehen oder die Einnahmen der Sozialversicherungen ihre Ausgaben decken können. Die Reformbedenkenträger liegen richtig, weil es ein denkbar schlechter Zeitpunkt ist, den Menschen die Krise als Chance zu verkaufen, mehr Eigenverantwortung als Freiheit zu predigen. Was soll ein Langzeitarbeitsloser mit seiner Freiheit anfangen, wenn es keinen Arbeitsplatz gibt, der sich finden ließe. Wie sollen es die Älteren verstehen, dass sie womöglich nur noch den Sozialhilfesatz bekommen, wenn sie ein Jahr arbeitslos gewesen sind – wo sie es doch waren, die in den vergangenen Jahren den Job zu Gunsten der Jüngeren aufgaben, wenn ein Unternehmen Personal abbauen wollte. Hatte der Kanzler nicht vor der Wahl versprochen, Arbeitnehmerrechte würden nicht angetastet? Und wird die Perspektive, im Alter so oder so in der Sozialhilfe zu landen, nicht viele abhalten, für private Vorsorge zu zahlen?

Auch die Zyniker haben Recht: Es hat noch niemand die Frage schlüssig mit Ja beantwortet, ob man einen Schlamassel, der über 30 Jahre hin angerichtet wurde, mit einer einzigen Rede und anschließendem politischen Handeln bis zur Sommerpause wieder beseitigen kann. Die Erfahrungen aus anderen Ländern in ähnlichen Situationen zeigen, dass es eher länger dauert. Aber das hilft nichts. Eines lässt sich aus dem, was heute schon erkennbar ist über die Regierungserklärung, ableiten: Es sind nicht nur Kürzungen geplant. Und auch nicht nur Sozialpolitik nach Haushaltslage. Ein Jahr Arbeitslosengeld zum Beispiel: Das wäre im europäischen Vergleich immer noch ein Spitzenwert. Und mittelfristig dürften viele von den Opfern, die sie jetzt bringen sollen, profitieren: Weil überhaupt nur dann wieder neue Jobs entstehen, wenn die Sozialabgaben sinken.

Wenn das Notwendige immer wieder verschoben wird, weil die Zeit gerade nicht passt, weil die Arbeitslosigkeit hoch oder das weltwirtschaftliche Umfeld ungünstig erscheint, wird sich die Wirtschaft auch dann nicht mehr erholen, wenn die Zeiten besser sind. Es ist bitter, es ist ungerecht, und es wird viele treffen, die es wirklich nicht verdient haben. Aber: Wann, wenn nicht jetzt, hat das Land überhaupt noch die Kraft, sich zu bewegen? Nichts tun lähmt noch mehr.

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