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Meinung: Reicht die Rente auch in Zukunft noch zum Leben?

„Sozialausgaben in Berlin steigen rasant / 3,9 Milliarden Euro im Jahr 2010 / Immer mehr ältere Menschen sind auf staatliche Leistungen angewiesen“ von Ulrich Zawatka-Gerlach vom 14. September Erstaunlich, dass sich noch Menschen darüber wundern, dass die Sozialausgaben für ältere Mitbürger steigen.

„Sozialausgaben in Berlin steigen rasant / 3,9 Milliarden Euro im Jahr 2010 / Immer mehr ältere Menschen sind auf staatliche Leistungen angewiesen“ von Ulrich Zawatka-Gerlach vom 14. September

Erstaunlich, dass sich noch Menschen darüber wundern, dass die Sozialausgaben für ältere Mitbürger steigen. Es mag sein, dass Berlin im Moment besonders betroffen ist, aber ich wage auch ohne Kenntnis konkreter Daten eine Prognose: In absehbarer Zeit werden in ganz Deutschland bettelnde Rentner das Straßenbild bestimmen, weil nur noch wenige eine durchgehende Versicherungsbiografie haben werden. Besonders problematisch erscheint mir die Tatsache, dass der Gesetzgeber mittlerweile vorschreibt, dass Hartz-IV-Empfänger zum frühstmöglichen Zeitpunkt in Rente gehen müssen. Ältere Arbeitslose haben also als Hartz-IV-Empfänger keine Chance, entsprechende Kürzungen ihrer Rentenansprüche abzuwenden.

Zu den bisher aufgezählten kommen natürlich noch die Menschen, die einen Großteil ihres Erwerbslebens mit geringem Einkommen leben mussten – privat vorsorgen kann man kaum, wenn man ohnehin nahe am Existenzminimum lebt. Und selbst wenn man es geschafft hat, selbst vorzusorgen, zum Beispiel mit einer Riesterrente, schützt einen das nicht sicher vor der Altersarmut, weil bei einer kleinen Rente das Einkommen der Riesterrente auf die Grundsicherung angerechnet wird.

Ich denke, jeder in Deutschland hat heutzutage Grund, sich sorgen um seine Zukunft zu machen. Ich bin mir jedenfalls nicht sicher, ob der Staat mir noch ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, wenn ich in knapp zwanzig Jahren das Rentenalter erreicht habe.

Martin Kluge, Berlin-Rudow

Sehr geehrter Herr Kluge,

richtig, man muss sich Gedanken machen über die Zukunft, die nähere und die weitere. Denn Zukunft ist noch nicht entschieden, Zukunft ist gestaltbar, mehr zum Guten oder weniger. Es liegt an uns selbst.

Das gilt für die Rente, die Altersversicherung generell. Das gilt auch für junge Menschen und Familien. Bleiben wir bei der Alterssicherung.

Was sind die wichtigsten Baustellen?

Sozialstaat. Der ist anstrengend und muss von Zeit zu Zeit neu justiert werden, aber es gibt nichts Besseres. Es gilt das Prinzip der organisierten Solidarität, – Pflichten und Rechte: Menschen für Menschen. Möglichst viele in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Kampf der Schwarzarbeit. Möglichst viele zahlen in die gemeinsame Versicherung. Diese sozialstaatliche Alterssicherung wird flankiert vom Steuerzahler über die Bundeskasse. Und individuell und kollektiv durch Riester- und Betriebsrente, die wichtig bleiben und dringend noch mehr Beteiligung brauchen.

Gute Löhne. Wenn Löhne hinter Wachstums- und Produktivitätssteigerungen deutlich zurückbleiben, fehlt es an Beiträgen in der Rentenversicherung. Auch deshalb sind Hungerlöhne sittenwidrig und Mindestlöhne nötig. Auch bei Leiharbeit.

Realität der Zahlen akzeptieren. Wir gehen – durchschnittlich – fünf Jahre später in den Beruf als 1960 und leben, recht gesund, rund zehn Jahre länger, die Rente wird entsprechend länger gezahlt. Es gehen oben mehr in Rente als unten ins Erwerbsleben wachsen. 100 Menschen zwischen 20 und 64 Jahren stehen heute 34 gegenüber, die 65 und älter sind, also Rentner. 2030 werden das statt 34 dann 50 sein, 2050 dann 65. Die Erwerbsquote der 20- bis 64-Jährigen liegt unter 80 Prozent. Die 65-jährigen und Älteren werden zu rund 100 Prozent Rentenempfänger.

Das alles hat Konsequenzen.

Mit 19,9 Prozent Rentenversicherungsbeitrag ist das schon jetzt nicht finanziert. Also zahlen wir aus der Steuerkasse hinzu, jährlich rund 80 Milliarden Euro. Das entspricht etwa einem Drittel der verfügbaren Haushaltsmittel.

Angemessene Lebensarbeitszeit. Vor zehn Jahren waren nur 38 Prozent der 55-Jährigen und Älteren berufstätig. Heute sind es rd. 56 Prozent, Tendenz steigend. Die pauschale Frühverrentung gibt es nicht mehr. Das faktische Renteneintrittsalter ist deutlich angestiegen. Den Weg zur Rente mit 67 sollten wir schrittweise gehen. Früheres Ausscheiden zu akzeptablen Bedingungen muss aus individuellen Gründen möglich sein.

Die Schwarz-Gelben machen einen schweren Fehler, wenn sie jetzt die Rentenversicherungszeit für Langzeitarbeitslosigkeit kategorisch streichen.

Hohes Wohlstandsniveau halten. Es ermöglicht eine gute Alterssicherung. Der Rentenwert ist ein Versprechen. Aber er ist gestaltbar, wenn die Finanzlage insgesamt dies erlaubt oder erzwingt.

Das hohe Wohlstandsniveau setzt voraus, dass wir mit Bildung, Qualifizierung, Forschung und Entwicklung dafür sorgen, dass wir am Markt Weltklasse bleiben. Was wir in die Herzen und Köpfe der Jungen und in die Leistungsfähigkeit unseres Landes investieren, entscheidet letztlich über das Niveau der Alterssicherung in der Zukunft.

Viel zu tun also, aber lösbar.

Mit freundlichen Grüßen

— Franz Müntefering (SPD), MdB, von 2005 bis 2007 Vizekanzler und Bundesminister für Arbeit und Soziales

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