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Religion: Kampf mit Toleranz

Die Debatte um Religion und Säkularität verschärft sich in ganz Europa. Dabei sollte man genau auf die Motive der Beteiligten achten.

Die europäischen Gerichte werden derzeit von einer beispiellosen Welle von Klagen und Verhandlungen überrollt, in denen Religion und Säkularität eine zentrale Rolle spielen. Am 15. Januar veröffentlichte allein der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg vier Urteile, die von Regierungen, religiösen Gruppen und Menschenrechtsexperten mit Spannung erwartet worden waren.

Dabei waren die Sachverhalte recht verschieden. Es ging um die Frage, ob eine Fluggesellschaft einer Flugbegleiterin das Tragen eines Kruzifixes untersagen darf; und ob Krankenschwestern aus Gründen von Sicherheit und Gesundheit gezwungen werden können, das Kruzifix abzulegen. Es wurde aber auch geprüft, ob britische Standesbeamte unter Berufung auf ihre Religions- und Gewissensfreiheit von der Pflicht zur Vermählung gleichgeschlechtlicher Paare entbunden werden dürfen; und ob auch Eheberater aus denselben Gründen homosexuellen Paaren ihre Dienste verweigern dürfen. Nur die Klage der Flugbegleiterin hatte Erfolg.

Immer häufiger urteilen Gerichte auch über die Anerkennung der religiösen Praktiken von Minderheiten, also etwa über jüdische und muslimische Speiseregeln in staatlichen Schulkantinen, religiöse Kleidervorschriften, rituelles Schlachten oder die in Deutschland intensiv diskutierte Frage religiöser Beschneidung. Spiegelbildlich dazu verhalten sich Klagen der katholischen Kirche – häufig also von Mehrheiten – gegen die Abschaffung bestimmter Privilegien. Insbesondere Papst Benedikt XVI. stand Forderungen nach Säkularität immer skeptisch gegenüber. Damit stellt sich die Frage, in welche Richtung sich der Vatikan nach seinem Rücktritt nun orientieren wird. Klar ist indes: Vor Gericht ist Religionsfreiheit nicht das „winning game“, für das es weithin, vor allem von Skeptikern, gehalten wird.

Tatsächlich hat die gesellschaftliche Bedeutung von Rechtskonflikten um Religion in westlichen Ländern in jüngster Vergangenheit massiv zugenommen. Mindestens so bedeutsam wie die Rechtsfindung selbst ist indes die Frage, wie diese Auseinandersetzungen öffentlich wahrgenommen und gesellschaftlich diskutiert werden. Das Papier, auf dem Urteile geschrieben werden, bleibt bisweilen geduldig. Warum aber läuft die Erregungsmaschine sofort heiß, wenn es um Religion und Säkularität geht? Was sagt dies über die Beziehungen zwischen Religiösen und Nichtreligiösen?

Wenn Einwanderung dämonisiert wird

Forderungen, die säkulare Verfasstheit der öffentlichen Sphäre und des Staates zu verteidigen oder durchzusetzen, werden meist im Namen bestimmter Leitideen, wie etwa Toleranz, vorgetragen. Hinter diesen Leitideen verbergen sich meiner Meinung nach aber oft völlig unterschiedliche Motive. Nur wenn wir diese Motive sorgfältiger als bisher auseinanderhalten, können wir sicherstellen, dass die Ideen von Säkularität und Neutralität nicht von jenen karikiert werden, die die damit verbundenen Werte eigentlich ablehnen.

Erstens wird Säkularität auch von jenen eingefordert, die eigentlich sagen wollen, dass der Islam und andere Religionen nichteuropäischen Ursprungs nicht nach Europa gehören. Im populistischen Diskurs kann dann Säkularität leicht zur politischen Formel werden, in deren Namen Einwanderung dämonisiert wird: als Einwanderung überdurchschnittlich religiöser Menschen in säkulare Gesellschaften.

Zweitens wird Säkularität von jenen gefordert, die eigentlich sagen wollen, dass Religion an sich – sowohl das Christentum als auch Minderheitenreligionen – eine überkommene Entwicklungsstufe menschlichen Denkens und Handelns darstellt. In radikal-aufklärerischer Tradition wird Religion zum Klotz am Bein menschlichen Fortschritts. Aus der Idee von Säkularität als weltanschaulicher Neutralität wird dann Säkularität als weltanschauliche Überlegenheit.

Drittens wird Säkularität manchmal von jenen eingefordert, die eigentlich die Privilegien und politisch-rechtlichen Sonderstellungen historisch dominanter Religionen verteidigen wollen. So geißelten italienische Richter in einem wichtigen Urteil im Streit um Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern die Klage als Versuch der Errichtung der Herrschaft einer Religion des Atheismus. Die Kruzifixe symbolisieren in dieser Lesart stattdessen die Einheit der italienischen Nation und deren Werte der Offenheit und Vielfalt. Paradoxerweise werden dann nicht die religionsneutralen Klassenzimmer, sondern die Kruzifixe zu Symbolen des Säkularen.

Viertens wird Säkularität von jenen gefordert, die eigentlich sagen wollen, dass die historisch dominante Religion eine wichtige Vorbedingung der modernen Säkularität ist; dass wir also heute moderne und aufgeklärte Menschen sein können, weil wir „früher“ christlich oder jüdisch waren, und dass überdurchschnittlich religiöse „Andere“, wie etwa Muslime und Sikhs, schwer in westliche Gesellschaften integrierbar sind, da sie diese Vergangenheit nicht teilen und deshalb nicht modern sein können. Die Idee der historisch-chronologischen Verknüpfung von Christentum mit moderner Säkularität und die „Auf-Bewahrung“ der dominanten christlichen Tradition im Konzept des (kulturellen oder geistigen) Erbes wird in europäischen Religionsdebatten immer wichtiger. Dies gilt sowohl für die öffentliche Diskussion als auch für Gerichtsentscheidungen, in denen Christentum (oder das christlich-jüdische Erbe) zunehmend zur Chiffre nicht von Religion, sondern von Kultur und freiheitlichen Werten wird.

Europäisierung populistischer Politik

Zwei gegenläufige Tendenzen werden in diesem komplexen Gemenge im europäischen Raum sichtbar: Europäisierung einerseits, Verstärkung nationaler Unterschiede andererseits. Die zunehmenden Ähnlichkeiten in den Religionsdebatten verschiedener europäischer Länder ergeben sich zunächst aus der politischen Schaffung eines europäischen Rechtsraums. Religiöse Gemeinschaften reagieren darauf, indem auch sie ihre rechtlichen Strategien im Kampf um Anerkennung grenzüberschreitend organisieren.

Vor allem aber werden nationale Religionsdebatten in Europa einander ähnlicher durch die Europäisierung populistischer Politik. Dies zeigte sich, als Frankreichs Ex-Präsident Nicolas Sarkozy die Burka zum politischen Problem erklärte und damit einen Dominoeffekt bei wahlkämpfenden Spitzenpolitikern in anderen Ländern auslöste. Stärker noch zeigte es sich in der klonartigen Ausbreitung populistischer „Freiheits“parteien, die allesamt mit ähnlichen minderheitskritischen Agenden auftreten.

Ein historischer Blick hinter die Kulissen der Gegenwart zeigt jedoch, dass unterschiedliche nationale Traditionen von Säkularität und dem Umgang mit religiöser Vielfalt die Religionsdebatten in den einzelnen Ländern durchziehen. Mit anderen Worten: Die Idee der Säkularität ist jeweils mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen, unterschiedlichen Bedeutungen und unterschiedlichen politischen Reaktionen auf religiöse Vielfalt verknüpft. Zentral sind dabei Leitideen, die die Diskussion organisieren.

So blicken beispielsweise die Niederlande auf eine jahrhundertealte Tradition von Debatten über Toleranz zurück. Anders als in Frankreich und Deutschland aber, wo in der frühen Neuzeit ebenfalls Toleranzdebatten geführt worden sind, wurde Toleranz zu einem zentralen Begriff im Selbstverständnis der Niederländer. Toleranz wurde gewissermaßen zu einer Leitidee, die besagt, dass Säkularität in erster Linie der harmonischen, gleichberechtigten Koexistenz von Angehörigen verschiedener Konfessionen dienen soll.

Damit ist keineswegs gesagt, dass Niederländer essenziell toleranter sind als Deutsche und Franzosen. Aber die Idee der Toleranz organisiert die Diskussion. So agitieren Populisten wie Geert Wilders gegen den Islam und das muslimische Kopftuch, weil sie es für ein Symbol der Intoleranz halten, die die niederländische Toleranz gefährdet. Dieser Logik folgend sind die Niederländer „zu tolerant“, um Intoleranz in ihren Reihen zu dulden. Andere wiederum argumentieren, es sei natürlich beste niederländische Toleranztradition, das Kopftuch und religiöse Vielfalt überhaupt zu tolerieren.

Weder in Frankreich noch in Deutschland ist ein vergleichbares Kreisen der Auseinandersetzung um die Idee der Toleranz zu beobachten. Dies heißt auch: Die Bedeutungen, die mit der Verteidigung oder Zurückweisung der Praktiken religiöser Minderheiten mitschwingen, sind verschieden. In Deutschland ist die Frage, ob Muslime nun „tendenziell“ tolerant sind oder nicht, prinzipiell nachrangig, etwa im Vergleich zur Frage der Geschlechterverhältnisse im Islam.

Merkels Absage an Multikulti

Vergleichsweise gleichgültig gegenüber der Frage der vermeintlichen Intoleranz der Muslime sind die Franzosen. Was im französischen Diskurs zählt, ist die republikanische Maxime der direkten, unvermittelten Beziehung zwischen individuellem Bürger und Staat. In Bezug auf Religion ist diese Maxime in der Leitidee der Laicité verdichtet, das heißt der Privatisierung religiöser Merkmale mit dem Ziel der öffentlichen Darstellung der fundamentalen Gleichheit aller Bürger. Ähnlich wie im niederländischen Diskurs um Toleranz können dabei ganz unterschiedliche Forderungen im Namen der Laicité erhoben werden.

Wichtig ist wiederum: Das Verbot auffälliger religiöser Symbole in staatlichen Schulen sowie die gesellschaftlichen Haltungen dazu haben andere Ursprünge als entsprechende Debatten in Deutschland, das über keine vergleichbare republikanische Tradition verfügt. Am 14. Dezember 2012 urteilte das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen, dass das französische Verbot des Tragens einer einfachen Kopfbedeckung männlicher Sikhs in staatlichen Schulen die Grundrechte verletzt. Mit Spannung verfolgen Juristen, ob die europäische Rechtsprechung darauf reagieren wird.

Anders ist die Situation auch in Großbritannien und den angelsächsisch geprägten ehemaligen Kolonien Australien und Kanada, wo Fragen zu Säkularität und religiöser Vielfalt unter dem Stichwort Multikulturalismus diskutiert werden. Als erstes Land der Welt begann Kanada bereits 1971 damit, seine Integrationspolitik am Konzept des Multikulturalismus auszurichten. Das Konzept ist dort seitdem zur geteilten Leitidee aufgestiegen. Dass es sich um wirkliche Leitideen handelt, wird durch die Tatsache illustriert, dass in Kanada auch konservative Politiker Befürworter des Multikulturalismus sind oder dass in Frankreich in den meisten Umfragen auch die Mehrheit der Muslime die Idee der Laicité und das Kopftuchverbot an Schulen unterstützte. Und doch verschleiert der Konsens, dass die katholische Kirche auf existierenden Privilegien beharrt.

Und Deutschland? Es scheint, dass sich in Deutschland bisher keine Leitidee in einem vergleichbaren Sinne entwickelt hat. Das muss kein Nachteil sein, denn Leitideen, die heute einen, können später auch spalten und polarisieren. Und sie können Widersprüche verschleiern. Angela Merkels medienwirksame Absage an den Multikulturalismus im Oktober 2010 wirkte gerade deshalb so seltsam, weil der Begriff (jenseits der Multikulti-Folklore) nie einen zentralen Status in deutschen Debatten innehatte. Dass ihre Absage den Tatsachen der Rechtsprechung eher widersprach, ging dabei völlig unter.

In hitzigen Debatten um religiöse Vielfalt und Integration hat die versachlichende Arbeit der Gerichte eine wichtige Funktion: Sie bindet die Auseinandersetzung an die Geltung der Grundrechte als Werte. Öffentliche Debatten über Säkularität, religiöse Gleichberechtigung und Freiheit tragen zu diesem Ziel bei, wenn sie die Motive ausbuchstabieren, in deren Namen die Ideen des säkularen Staates oder der säkularen Gesellschaft verteidigt werden. Nur wenn diese Ideen vor rassistischer und kulturchauvinistischer Vereinnahmung geschützt werden, können sie der Umsetzung der Werte der Aufklärung dienen. Aber auch religiöse Polemiken gegen säkulare Werte, mit Hilfe derer angeblich Gläubige stigmatisiert werden und die somit als antireligiös diffamiert werden, hätten dann weniger Erregungspotenzial.

Der Autor arbeitet am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen.

Marian Burchardt

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