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Roger Boyes: Warum Lena nicht siegen kann

Es ist eine Illusion der Deutschen, wenn sie glauben, Lena oder irgendeine andere Deutsche könne gegen das Abstimmungskonglomerat der Eurovision siegen.

Ich bin ja ein eher sanftmütiger Mensch. Aber wenn ich das Gesicht von Dieter Bohlen sehe, spüre ich den Drang, ihm auf die Nase zu hauen. Es liegt nicht allein an seiner Grillhähnchen-Visage oder an seiner nasalen Aussprache. Ich glaube, es ist sein permanentes Grinsen. Aber anstatt ihm vor seiner Villa aufzulauern, neige ich dazu, einen Schuh gegen den Fernseher zu werfen, so wie es der arabische Journalist mit Bush getan hat. Bush hatte genau so ein Grinsen.

Ich hätte es also besser wissen müssen. Warum bloß habe ich mir am Sonntag Gottschalk angeschaut? Ich hätte ein Buch lesen können oder Kartoffeln schälen. Jedenfalls tauchte plötzlich Bohlen bei Gottschalk auf dem Sofa auf und verlangte, dass die Griechen beim Eurovisions-Wettbewerb zwölf Punkte für Lena geben – weil, Sie wissen schon, die Deutschen den Griechen so viele Milliarden Euro gegeben haben. Das war der Moment, in dem mein Schuh gegen mein Philips-Breitbildschirm-Fernsehgerät flog. Ich hoffe, es kann noch vor der Fußball-WM repariert werden.

Das eigentliche Problem ist der Siegerwahn. Die Deutschen haben das Gefühl, dass ihnen so viel Übles widerfährt, dass sie dringend siegen wollen, in irgendetwas, das sie für ihr Talent, ihre Bescheidenheit und ihr angeborenes Gutsein belohnt. Es begann mit der Illusion, Angela Merkel sei die Königin von Europa. Verpufft! Dann kam der Gedanke auf, Bayern München wäre das beste Fußballteam in Europa. Verpufft! Schumi? Kann man vergessen. Und jetzt, gewissermaßen als Massenpsychose, ist die Idee in jedem deutschen Wohnzimmer gereift, dass Lena den Song Contest gewinnt. Das würde auch Nicole, nach all den Jahren, nicht mehr ganz so isoliert wirken lassen.

Was ich bislang von Lena gesehen habe, gefällt auch mir: Sie ist frech, scheint zu verstehen, was sie singt, und sie hat jenen frischen Charme, den man braucht, um zum Beispiel Bio-Eis auf dem Ku’damm zu verkaufen. Aber gewinnen kann sie nicht. Es ist eine Illusion der Deutschen, wenn sie glauben, Lena oder irgendeine andere Deutsche könne gegen das Abstimmungskonglomerat der Eurovision siegen. Glauben Sie wirklich, dass das beste Lied (einmal angenommen, „Satellite“ sei das) sich in diesem seltsamen Wettbewerb am Ende durchsetzt? Nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte verkennen die Deutschen die geopolitischen Realitäten.

Man sollte das wissenschaftliche Werk von Dr. Derek Gatherer studieren, dem vielleicht weltbesten Eurovisionologisten. Es gibt, sagt er, im Wesentlichen drei Abstimmungsallianzen, die den Wettbewerb dominieren. Und Deutschland gehört zu keiner davon. Die erste ist der immer weiter expandierende Balkan-Block, der nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens entstand. Im Zentrum steht Kroatien. Er schließt aber auch Mazedonien (im Halbfinale ausgeschieden), Slowenien und – trotz des blutigen Krieges zwischen Zagreb und Belgrad – Serbien mit ein. Die Türken sind auf Seite Bosniens (wegen der Muslime), die Bosnier für Kroatien, die Albaner für die Mazedonier, die Griechen für die Serben, die Zyprioten für die Griechen. Welche Chance hat Lena gegen dieses Gewirr aus Vetternwirtschaft, Blutsbanden und wechselseitiger Abhängigkeit?

Die einzig nennenswerte Herausforderung für die Balkanistas ist das, was Dr. Gatherer als Wikingerreich charakterisiert. Isländer stimmen für Dänen, Dänen für Norweger, Norweger für Schweden, Schweden für Letten, Letten für Litauer, Litauer für Esten, Esten für Finnen. Auf diese Weise gewann 2006 die Hardrockband aus Finnland. Der dritte Block hilft Lena auch nicht: Er ist die Rückkehr der Sowjetunion als Vereinigung von Sänger-Staaten. Im Mittelpunkt steht Russland. Stets profitieren aber auch die Ukraine und Weißrussland. In diesem Jahr könnte Aserbaidschan ganz oben landen mit dem Lied „Drip Drop“. Wer bei der Eurovision siegen will, braucht allerdings mehr Stimmen als nur aus einem Block. Der Gewinner im letzten Jahr, Alexander Rybak, stammt ursprünglich aus Weißrussland, hatte also die Osteuropäer auf seiner Seite. Durch sein perfektes Norwegisch zog er auch die Wikinger hinzu. Um ebenfalls so erfolgreich zu sein, müsste Lena den Titel ihres Liedes von „Satellite“ zu „Sputnik“ ändern (zwölf Punkte aus Moskau) und in den Text eine Abba-Zeile für die Wikinger einbauen.

Aber das passiert nicht. Gewinnen wird daher wahrscheinlich der brustbehaarte Grieche Giorgos Alkaios. Das heißt, im nächsten Jahr wird der Wettbewerb in Athen stattfinden. Und bezahlen dafür wird die European Broadcasting Union, die zum größten Teil aus Deutschland finanziert wird. Das ist das neue Europa. Wir müssen nur aufpassen, dass Dieter Bohlen eingeladen wird.

Aus dem Englischen übersetzt von Malte Lehming.

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