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Meinung: Rot-Rot verhandelt: Denn sie wissen mehr als sie tun

Wir müssen hier einen neuen Verdacht gegen Gregor Gysi erheben. Der kommende Senator hat am Wochenende gesagt, er fürchte sich vor einer gottlosen Gesellschaft.

Wir müssen hier einen neuen Verdacht gegen Gregor Gysi erheben. Der kommende Senator hat am Wochenende gesagt, er fürchte sich vor einer gottlosen Gesellschaft. Außerdem bekannte der angebliche Sozialist: "In unserer Gesellschaft stehen alle Werte, von denen wir meinen, dass sie außerhalb bestimmter religiös verankerter Werte liegen, auf tönernen Füßen." Hier spricht offenkundig einer, der an den Sozialismus nicht mehr und an Gott noch nicht glauben kann. Das kennen viele bürgerliche Menschen aus dem Westen der Stadt - von sich selbst. Der Verdacht liegt also nahe, dass Gysi zwar immer noch Anwalt des Ostens ist, ansonsten aber so denkt und lebt wie jeder gewöhnliche Charlottenburger. Aber was bedeutet das für die rot-roten Koalitionsverhandlungen? Und gibt es die überhaupt?

Die Verhandlungen verlaufen so unspektakulär, als ginge es um die Fortsetzung einer seit Jahren bekannten Politik. Der Regierende Bürgermeister handelt getreu seinem Motto: Tue wenig und rede nicht darüber. Zur Belohnung leistet er sich jetzt eine Auszeit. Am Freitag fährt er in Urlaub, am 7. Januar kommt er zurück. Da scheint ja alles wie von selbst zu laufen. Doch halt! Sollte nicht alles anders werden? Wer genau hinsieht, erkennt die Konturen einer erstarrten Stadt. Der Großflughafen: ein lästiges Erbe. Olympia: kein Ehrgeiz. Verlängerung der U-Bahn: überflüssig. Hochhäuser am Alexanderplatz: vielleicht doch nicht. Ein Bau auf dem Schlossplatz: bloß nicht. Lieber eine Wiese zwischen Funkturm und Spree. Das ist der Stand der Koalitionsverhandlungen. Wen soll das animieren? Die Wirtschaft? Wer nur kleines Geld hat, muss es intelligent einsetzen und gute Stimmung machen, damit andere ihr großes Geld hier ausgeben.

Der Bruch der Großen Koalition war notwendig für einen neuen Aufbruch. Die rasante gesellschaftliche Veränderung der Stadt hatte der Diepgen-Senat kaum wahrgenommen. Das zu ändern ist Wowereit angetreten. Die Ideen und Visionen der frühen neunziger Jahre sollten wieder verfolgt werden, auf der Basis eines solide sanierten Haushalts. Und einen neuen politischen Stil wollte Wowereit auch repräsentieren - Schampus statt Schultheiss. Persönlich ist ihm das gelungen, jedenfalls einigermaßen. Politisch scheint alles vergessen.

Wahrscheinlich meinen die Verhandlungsführer beider Parteien, sie würden der Stadt mit ihren Beschlüssen so am besten gerecht. Sie hoffen auf ein bisschen Verständnis für das Allernotwendigste und bieten dafür so viel Ruhe wie möglich. Nur keine Aufregung. Berlin bleibt doch Berlin, sogar unter Rot-Rot. Aber ein Großteil der Stadt ist längst weiter als langweilige, einen sozialen Anschein nur mühsam wahrende, mutlose Politik, die alle Sparmaßnahmen als Ausrede für einen Mangel an Mut missbraucht. Für ein Ziel zu leiden wäre Berlin schon bereit. Aber es müsste schon etwas Schöneres sein als die Reduzierung der Nettokreditaufnahme. Diepgen konnte dem Tempo der Hauptstadt schon nicht mehr folgen. Der neue Senat scheint es erst gar nicht versuchen zu wollen.

Das ist umso ärgerlicher, als nicht nur Gregor Gysi längst weiter ist als die Politik, die seine Partei betreibt. Auch Klaus Wowereit hat Kontakt aufgenommen mit einer Wirklichkeit, die jenseits der Grenzen seiner Partei liegt. Beide spüren, dass da mehr sein muss: Wowereit, wenn er durch das bunte Nachtleben schwebt, Gysi, wenn er seine Furcht vor einer gottlosen Gesellschaft beschreibt. Aber Wowereit zieht keine Konsequenzen aus seinem Spaß, Gysi nicht aus seiner Furcht. Und ihre Parteien halten - wenig geführt, gut moderiert - lieber fest an dem, was sie kennen. Das sind so die Umstände, unter denen die offene Ausstellung über die städtebaulichen Ideale der DDR am Alexanderplatz verlängert wird, anstatt die bemerkenswerten Pläne für diesen unwirtlichen Ort weiter anzubieten.

Wowereit und Gysi wollen Sponsoren und Investoren nach Berlin locken. Aber ihre Mutlosigkeit steckt an und schreckt ab. Wer davon lebt, viel zu riskieren, fühlt sich nicht wohl unter Zauderern.

Eine gute Stadt hält auch schon mal schlechte Politik aus. Aber bitte nicht schon wieder.

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