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Russland: Anruf von oben

Morde und Razzien: Russland ähnelt dem alten Unrechtsstaat sowjetischer Prägung

Verteidiger von Dissidenten wie der Anwalt Stanislaw Markelow oder kritische Journalisten wie Anastasia Baburo wa werden mitten in Moskau auf offener Straße erschossen. Jugendliche Neonazis gehen mit Holzknüppeln auf die Teilnehmer einer Mahnwache zu Ehren der Toten los, und die Polizei sieht tatenlos zu. Bei aller Nachsicht für Sonderformen der Demokratie wie der russischen: Toleranz hat ihre Grenzen, und die sind nach dem Doppelmord am Montag erreicht. Zumal Angehörige und Kollegen der Toten es als puren Hohn empfinden müssen, dass Medwedew und Putin sich dazu bisher mit keiner Silbe äußerten und das russische Außenministerium davor warnt, die Todessschüsse „künstlich zu politisieren“.

Adressat waren die üblichen Verdächtigen: westliche Regierungschefs, in- und ausländische Jour nalisten und russische Oppositionelle. Sie hatten sich geweigert, die jüngsten Morde als persönliche Racheakte und Einzelfälle zu verharmlosen. Völlig zu Recht.

So unterschiedlich Motive und Tathergang auch waren, es besteht ein Kausalzusammenhang zwischen den Morden an demokratischen Duma-Abgeordneten und den Schüssen auf kritische Journalisten; zwischen den Urteilen wegen angeblicher Spionage gegen Umweltschützer, die die Verklappung von Atommüll anprangerten, und den Strafen für Oligarchen, die die Opposition finanziell unterstützten. Wohl gemerkt, nur für diese: Denn für das, wofür Ex-Jukos-Chef Michail Chodorkowski sitzt, hätte man Russlands goldene Oligarchengeneration kollektiv vor den Kadi zerren können. Gleichheit vor dem Gesetz aber setzt voraus, dass Richter und Geschworene ihr Urteil ohne Angst vor einem Anruf von ganz oben oder vor einem gedungenen Scharfschützen fällen können.

Ist der Mensch weg, ist auch das Problem weg, wusste schon Stalin. Als studierter Theologe konnte er womöglich doch noch einen Klappsitz im Himmel ergattern und schaut von dort aus wohlgefällig auf seine Erben herab. Anders als in Osteuropa, wo sich bei allen Rückschlägen Rechtsstaatlichkeit allmählich durchsetzt, rudert Russland zurück in den alten Unrechtsstaat sowjetischer Prägung. Unfreie Medien, eine abhängige Justiz und eine marginalisierte Opposition sind nur die Spitze des Eisbergs. Und statt die kommunistische Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten, hängen die Nation und ihre selbst ernannten Eliten ausgerechnet deren dunkelsten Kapiteln den Heiligenschein von Größe und Heroismus um.

Bei einer landesweiten Abstimmung über historische Persönlichkeiten, deren Namen für Russland stehen sollen, kam ausgerechnet der Georgier auf Platz drei. Zeitgleich beschlagnahmten Geheimdienstler in St. Petersburg die Computer der Bürgerrechtler von „Memorial“ mit Dateien über Stalins Straflager. Und deren Sicherheitskopien zur Sicherheit gleich mit dazu. Jetzt ist auch Anwalt Markelow, der für Memorial arbeitete, weg. Damit aber hat Russland nicht ein Problem weniger, sondern eines mehr.

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