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Meinung: Sag einfach, du wärst Kanadier

GASTKOMMENTAR Meine amerikanischen Freunde und Kollegen haben Angst um mich. Nicht weil ich in Washington wohne – sondern weil ich auf dem Weg nach Freiburg und Berlin bin.

GASTKOMMENTAR

Meine amerikanischen Freunde und Kollegen haben Angst um mich. Nicht weil ich in Washington wohne – sondern weil ich auf dem Weg nach Freiburg und Berlin bin. „Wenigstens sprichst du deutsch“, sagte einer, „und unterhalte Dich um Gottes Willen nicht auf Englisch, wenn du dort drüben bist.“ Ein anderer riet mir, ein Ahornblatt auf meinen Rucksack zu nähen. „Sag einfach, du lebst nur zufällig in Amerika, eigentlich wärst Du Kanadier.“

Wenn es irgendwo in der Welt eine Zuflucht für den Ami als „Zielscheibe“ gibt, dann doch wohl in Freiburg, nicht wahr? Zugegeben, die amerikanische Phantasie hat mehr für Heidelberg übrig, außerdem wird Freiburg von Grünen und Studenten bevölkert. Aber Schwarzwälder Kirschtorte, Trachtenfiguren, und Kuckucksuhren sind schließlich auch nicht zu verachten.

Wein für den Gulli

Welche amerikanische oder gar französische Stadt könnte von sich sagen, eine ebenso bedeutende Rolle wie Freiburg für die kulturelle Entwicklung der Menschheit gespielt zu haben? Es ist kein Zufall, dass die Amerikaner die Deutschen mit Respekt behandeln, aber Kübel mit Dreck über die Franzosen ausschütten, ja sogar französischen Wein vor der Botschaft in Washington in den Rinnstein schütten. Und die Kongresskantine in Washington von „French Fries“ säubern.

Sie tut mir in der Seele weh, die Verschwendung des teuren Traubensafts, aber selbst solche Fanatiker würden nie einer Kuckucksuhr etwas zu Leide tun. Vielleicht weil sie wissen, dass Deutschland letztlich ein harmloses Land geworden ist, und daran nichts auszusetzen haben. Erinnern Sie sich an Orson Welles im Film „Der Dritte Mann“ und die Theorie vom Frieden: Das Italien der Renaissance ist für unendlich viele Kriege verantwortlich – und für Michelangelo und eine Horde anderer großartiger Künstler. Wozu haben hunderte Jahre Frieden in der Schweiz geführt? Zur Kuckucksuhr. Niemand befürchtet oder erhofft heute noch besonders viel von Deutschland, am wenigsten die Deutschen selbst, die am liebsten in Frieden gelassen werden wollen. Vielleicht sollte schlicht die Kuckucksuhrproduktion erhöht werden, um der Exportnation Deutschland wieder auf die Beine zu helfen?

Verstoß gegen Familienrecht

Und doch: Freiburger Idylle hin oder her, ein wenig nervös bin ich schon, wie wohl ein Amerikaner in Deutschland empfangen wird in dieser Zeit, in der George W. Bush vielen Deutschen mächtig auf den Zeiger geht. Wie meine Regierung fürchte ich mich vor dem Rat meiner engsten Alliierten – meiner Verwandten. Meine Tante Anna feiert im Schlossberg-Restaurant mit der ganzen buckligen Familie ihren 70. Geburtstag.

Meine Eltern haben sich entschuldigt, meine Vater ist vor, meine Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland emigriert. Wenn ich nun also aufstehe und eine kleine Rede halte, gilt das dann schon als US-Alleingang? Und wenn ich ein Stück Kuchen verschlinge, ist das dann ein nackter, unmoralischer, imperialistischer Akt von Aggression, ein Verstoß nicht gegen das Völker-, sondern das Familienrecht? Darf man hoffen, dass auch in Bagdad bald wieder Familientreffen stattfinden?

Ich könnte natürlich einfach daran erinnern, dass Amerika historisch kein Monopol auf Arroganz hat. Es war nicht George W. Bush, der gesagt hat „Der Staat bin ich“. Und es war schließlich Frankreichs Marie-Antoinette, die den hungernden Parisern riet: Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen.

Der Autor ist Leitartikler der „Los Angeles Times“. Foto: privat

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