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Meinung: Salade Niçoise

Kompromiss oder Scheitern: Welche Mehrheit entscheidet in der vergrößerten EU?

Lohnt es sich, für einen erbärmlich schlechten Vertrag zu sterben? Natürlich nicht. Der Vertrag, den der deutsche Außenminister so vernichtend bewertet, und für den die polnische Diplomatie in theatralischer Übertreibung bereit wäre, ihr Leben zu lassen, ist der von Nizza. Nicht irgendeiner, nein, jener europäische Vertrag aus dem Jahr 2000, der die Gewichte der einzelnen Mitgliedsstaaten in einem erweiterten Europa regeln sollte. Drei Jahre sind seitdem vergangen. Im kommenden Mai wächst die Europäische Union um zehn auf dann 25 Nationen, in zwei Wochen wollen sich die Regierungschefs in Brüssel abschließende Gedanken über die europäische Verfassung machen. Auf einmal wird alles ganz eilig, die Zeit brennt auf den Nägeln, und alle Probleme, die die Regierungen seit Monaten ungelöst vor sich herschieben, ballen sich nun zu einer Lawine zusammen, die gar den Verfassungsentwurf selbst niederzuwalzen droht.

Nizza, das war eine der dunkelsten Stunden in der politischen Karriere von Jacques Chirac, und der dort mehr zusammengeschusterte als besonnen ausgehandelte Vertrag hat Europa mehr Ärger als Fortschritt gebracht. Mehrheitsentscheidungen in den Ministerräten wären zum Beispiel künftig nur noch mit mindestens 72 Prozent der Stimmen aller Mitglieder möglich. Das heißt im Umkehrschluss, dass 28 Prozent der Stimmen jede Politik blockieren können. Mehr noch: Nizza hat mittleren Staaten wie Polen und Spanien mit jeweils 27 Stimmen fast das gleiche Gewicht wie den vier „Großen“, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien, mit je 29 Stimmen gebracht. Dass Polen überhaupt mit gleichem Gewicht wie Spanien im Ministerrat auftreten kann, hat es dem deutschen Bundeskanzler und seinem Außenminister zu verdanken. Schröder wie Fischer fühlten sich in Nizza als Anwälte des Beitrittskandidaten Polen.

Das hindert die Kontrahenten von damals nicht, nun gemeinsame Position zu beziehen, wenn es um eine mögliche Verschiebung der Gewichte geht, wie sie im Entwurf der europäischen Verfassung vorgeschlagen wird. Denn hier sollen neue Regelungen gelten, die die Beschlussfähigkeit garantieren. Danach bedarf es künftig der einfachen Mehrheit der Staaten, also 13 von 25, wenn diese mindestens 60 Prozent der Bevölkerung der EU repräsentieren. Dafür machen sich die Franzosen und die Deutschen stark. Sie fürchten, dass ohne Koppelung der Mehrheit an die Bevölkerungszahl die kleinen die großen Staaten dominieren könnten. Die Kleinen ihrerseits – Spanien und Polen sprechen für dieses Lager – sind über eine mögliche Vormacht der Großen besorgt.

Die deutsch-französische Arroganz beim Niedertrampeln des europäischen Stabilitätspaktes hat die Bedenken der kleineren EU-Staaten noch wachsen lassen. Sie glauben nicht mehr so recht an die guten Absichten der Berliner Diplomatie bei der Reform der Institutionen und der Abstimmungsmodalitäten. Wie immer, wenn es nach deutsch-französischen Absprachen aussieht, besinnen sich die Briten auf die alte Politik der balance of powers, des Ausbalancierens und gegenseitigen Neutralisierens der Kräfte. Außenminister Jack Straw hat sich beim Gipfel von Neapel überraschend an der Seite Polens und Spaniens engagiert und vorgeschlagen, den ganzen Streit um die Stimmgewichte bis ins Jahr 2009 zu vertagen – wait and see.

Joschka Fischer wird nicht müde, davor zu warnen, dass ein solches Abwarten oder eine schlechte Verfassung für Europa – also ein Einknicken in der Frage der Beschlussmodalitäten – schlimmer wären als gar keine Verfassung. Nicht nur ihn graust bei der Vorstellung der sich selbst lähmenden europäischen Institutionen. Und dass in Zukunft Beschlüsse des Ministerrates von einer Mehrheit kleinerer Staaten gegen die Minderheit größerer Staaten gefasst würden, hinter der dann aber fast zwei Drittel der Bewohner der EU stünden – das übersteigt nicht nur die Vorstellungskraft Fischers.

An einer anderen diplomatischen Front hat der Außenminister ja offenbar bereits stillschweigend deutsche Positionen geräumt. Von einer Verkleinerung der Kommission träumt in Berlin niemand mehr. Jedes der 25 Mitgliedsländer wird wohl seinen Kommissar und die großen Staaten deren zwei bekommen.

Gerd Appenzeller

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