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Verschleierte Frauen auf der Karl-Marx-Straße in Neukölln.

© dpa

Sarrazin und Heisig: Wann werden Bürgerängste ernst genommen?

Das Ärgerlichste an Thilo Sarrazins Buch ist, dass es ein anderes verdrängt hat: Kirsten Heisigs "Das Ende der Geduld". Am Montag gibt es eine Gesprächsrunde zum Gedenken an Heisig - mit Neuköllns Bürgermeister Buschkowsky.

Das Ärgerlichste an Thilo Sarrazins Buch ist, dass es ein anderes verdrängt hat, erst in der öffentlichen Wahrnehmung, jetzt auch in den Bestsellerlisten, das ebenfalls von sozialer Verwahrlosung, Jugendkriminalität und Integration handelt: Kirsten Heisigs „Das Ende der Geduld“. Gerade erst hatte eine ernsthafte Debatte über die kühl zusammengefassten Erfahrungen und Empfehlungen der verstorbenen Berliner Jugendrichterin begonnen, da ging sie auch schon wieder unter in der Hysterie um Sarrazins soziobiologisches Allerlei. Am Montagabend gibt es nun in Neukölln eine Gesprächsrunde zum Gedenken an Kirsten Heisig. Sie wird wahrscheinlich gehaltvoller sein als alle TV-Talkshows mit und über Sarrazin zusammen.

Auf dem Podium sitzt dann einer, von dem Sarrazin sagt, er habe sich oft mit ihm unterhalten, der aber über Sarrazin sagt, dieser habe ihm nicht richtig zugehört: Heinz Buschkowsky, Bürgermeister von Neukölln. Fehlende Differenzierung der Muslime hält er Sarrazin vor, Überbewertung der Genetik, irreführende Prognosen und mangelnde Unterstützung während dessen Ära als Senator. Buschkowsky hat sich bereits mit Integrationsproblemen befasst, als Sarrazin noch die Finanzen in Mainz sortierte. Vor fünfzehn Jahren schon sprach Buschkowsky, damals Jugendstadtrat, über Intensivtäter. Es war eine Zeit, in der die Politik auf Sozialarbeiterprojekte setzte, bei denen es „in erster Linie“ darum ging, „Vorurteile abzubauen“. Buschkowsky hatte früh erkannt, wohin das führt.

Kirsten Heisig schrieb über Buschkowsky, ihm gebühre größte Anerkennung, er sei von unschätzbarer Bedeutung. Das hat seine Partei, die SPD, nicht immer so gesehen. „Verheerend“ nannten Sozialdemokraten seine Behauptung, die Integration von Teilen der Migranten sei gescheitert; als „kleiner Bürgermeister“ wurde er abgetan; die SPD verhinderte sogar, dass Buschkowsky über seine Erkenntnisse im Parlament berichten konnte. Er hat die Erfahrung gemacht, wie schnell einer, der sich den offensichtlichen Integrationsproblemen pragmatisch nähert, im politischen Diskurs nach Rechtsaußen abgedrängt und irgendwann wegen einer verunglückten Formulierung dort festgehalten wird. Selbst als Buschkowsky mit dem Gustav-Heinemann-Bürgerpreis geehrt wurde, widersprach ihm der Laudator Klaus Wowereit in dessen zentraler These über das Scheitern von „Multikulti“. Gegen Buschkowskys Rat hat ein SPD-geführter Senat die Vorklassen abgeschafft; Vorschläge von ihm, wie die Kürzung von Sozialleistungen bei Bildungsverweigerung, wurden voreilig als rechtswidrig abgetan. Gerade erst hat ein Gutachten Buschkowskys Ansicht bestätigt.

Über manche Ideen wird zu Recht gestritten, etwa die Kita-Pflicht nach dem ersten Lebensjahr. Warum wegen der Bildungsprobleme bestimmter Gruppen alle Kleinkinder in gesamtgesellschaftliche Geiselhaft genommen werden sollen, muss er noch mal erklären. Es spricht aus einem solchen Vorschlag wohl auch die Verzweiflung über politische Unentschlossenheit. Vieles, was Buschkowsky und andere seit langem fordern, wird erst jetzt wirklich erwogen. Sarrazin war nicht der Einzige, der nicht richtig zugehört hat. Die SPD mag Sarrazin ausschließen. Was aber bleibt, ist der Ärger darüber, dass es erst des demagogischen Sarrazinismus bedurfte, um die Sorgen und Ängste vieler Bürger zu erkennen. Ob sie nun auch ernst genommen werden?

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