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Thilo Sarrazin teilt aus und muss einstecken.

© dpa

Sarrazins Buch: "Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent angeboren"

Deutschland schafft sich ab, behauptet Thilo Sarrazin in seinem neuen Buch. Eine Rezension.

Von links bis rechts verhasst und verehrt, deckt Thilo Sarrazin, der zur Bundesbank entlaufene Berliner Ex-Senator, das ganze Spektrum des politischen Erregungspotenzials ab. Sarrazin macht immer Quote, egal ob in der Rolle des fremdenfeindlichen Bösewichts oder als Retter Deutschlands vor muselmanischer Überfremdung.

„Deutschland schafft sich ab“ heißt das Buch, in dem er seine bisher in Interviews verstreuten Positionen im Zusammenhang darstellt. Dieses Buch enthält nichts, was sein Autor nicht schon zur Empörung der einen und zur offenen oder klammheimlichen Freude der anderen gesagt hätte. Dennoch hatte schon die bloße Ankündigung dieses Buches bei einer als „Vereinigte Migrantenpartei“ sich formierenden Gruppe die Drohung ausgelöst, man werde das Buch genau „evaluieren“ und gegebenenfalls Strafanzeige wegen Volksverhetzung stellen.

Dieser im Stil eines Wächterrats vorgebrachten geistigen Kontrollanmaßung entsprach nach den Vorabdrucken in „Spiegel“ und „Bild“ die skurrile Belobigung aus der NPD-Ecke, Sarrazin habe „durch das Dickicht der politischen Korrektheit mit dem Schwert der Wahrheit eine Schneise geschlagen“.

In den gepflegteren Milieus reagiert man auf dieses Buch, wie man schon auf die Interviews reagiert hatte: Irgendwie hat er ja recht, wenn er nur nicht so provozierend formulieren würde. In diese Richtung wirbt der Verlag, wenn er Helmut Schmidt mit der Bemerkung zitiert: „Wenn er sich ein bisschen tischfeiner ausgedrückt hätte, hätte ich ihm in weiten Teilen zustimmen können.“

Diese teetassenhafte Besorgnis um Sarrazins Tischfeinheit zeigt, dass der Mann schmutzige Gedanken in den Mund nimmt, die viele Leute mit sauberen Händen im Kopf haben, wenn es um die in- und ausländischen Unterschichten geht. Selbstverständlich hat Sarrazin nichts gegen den türkischen Arzt oder den arabischen Diplomaten. Wie ja einst auch der gehobene Antisemit stets ein paar bessere Juden zu seinen Freunden zählte, um die Unterschichtsjidden im Stetl umso inbrünstiger verachten zu können. Sarrazin und seinen heimlichen Anhängern in der Mittelschicht macht der deutsche und islamische Plebs so zu schaffen, dass sie fürchten, Deutschland schaffe sich ab.

Sarrazins Argumentationsweg lässt sich mit fünf Schritten abkürzen:

Erstens: „Intelligenz ist zu 50 bis 80 Prozent angeboren.“ Zweitens: Die Hochbegabung konzentriert sich in der Oberschicht, die Mittelschicht bringt gut Begabte hervor, in der Unterschicht ist überdurchschnittliche Intelligenz selten, in der von staatlichen Transferleistungen lebenden Unterschicht schon normale Intelligenz die Ausnahme. Drittens: Die Fruchtbarkeit in der Ober- und Mittelschicht ist zu gering, diejenige in der deutschen wie ausländischen Unterschicht zu groß. Je niedriger der Intelligenzquotient, desto höher die Fertilitätsrate. Viertens: Dies führt zum Sinken der gesellschaftlichen Gesamtintelligenz und zum Steigen der staatlichen Transferkosten. Fünftens: Zur Korrektur dieser Entwicklung müssen die dummen Leute aus der Unterschicht am Kinderkriegen gehindert und die klugen Leute aus der Mittel- und Oberschicht zum Kinderkriegen animiert werden. Des Weiteren ist die Zuwanderung dummer Türken, Araber und Afrikaner zu unterbinden und durch eine gesteuerte Migration gebildeter Menschen aus intelligenteren Ländern zu ersetzen.

Was hier in fünf Punkten zusammengefasst ist, setzt Sarrazin in neun Kapiteln auseinander. Das hat damit zu tun, dass Sarrazin bekennender Einhämmerer ist und ihm der Zweck der Zustimmungsbeschaffung das Mittel der Redundanz heiligt. Der andere Grund dafür, dass eine überschaubare Thesenführung ein undurchsichtiges Buch hervorbringt, hat mit der kabarettistischen Selbstverliebtheit des Autors zu tun.

Wenn er sich als Geschichtsphilosoph, Anthropologe, Religionshistoriker und Genetiker äußert klingt das so: „Es bleibt niemals etwas so, wie es ist, und kein gesellschaftlicher Zustand ist konservierungsfähig.“ – „Das Knochengerüst und die Sinnesorgane des Menschen sind phylogenetisch auf seine einstmalige Existenz als Jäger und Sammler abgestellt. Deshalb brauchen viele ab Mitte 40 eine Brille, ab Mitte 50 neue Hüften und ab Mitte 60 ein Hörgerät.“ – „Bei den Katholiken hat“, im Unterschied zu evangelischen Pfarrersfamilien, „das Zölibat eine Vermehrung dieses Teils der intelligenten Bevölkerung verhindert.“ – „Eine über Jahrhunderte betriebene Familien- und Heiratspolitik, die dem intellektuellen Element überdurchschnittliche Fortpflanzungschancen gab, führte allmählich zur Ausbildung der überdurchschnittlichen Intelligenz.“

Die zuletzt zitierte Bemerkung bezieht sich auf die europäischen Juden und ist eine der Stellen, an denen das Komische zum kapitalen Ernst wird. Denn viele Akademiker mit Familientradition sind auch bei ihrem eigenen Nachwuchs von der natur- und gengegebenen Begabung überzeugt. Promoviert gezeugte Kinder gehen nicht auf die Hauptschule. Und das hat dem genfetischistischen Mainstream zufolge viel mit dem biologischen und wenig mit dem sozialen Erbe zu tun. Wie früher der liebe Gott den Menschen ihren Platz in der Gesellschaft anwies, so tun das heute die guten Gene.

Von diesem Punkt aus, der je nach (genetischem?) Naturell von manchen Akademikern mit Vorsicht, von anderen mit Nachdruck geltend gemacht wird, führt der Ideenweg schnurstracks von der Sozial- zur Biopolitik. Diesen Weg geht Thilo Sarrazin ohne nach rechts und links zu blicken mit der Bravour des Überzeugungstäters. Ihm ist egal, ob seine Äußerungen den fleißig geschmähten Gutmenschen wie Hasspredigten in den Ohren klingen.

Jedoch haben auch gute Menschen schlimme Gedanken, wenn ihre allgemeine Moral mit der besonderen Sorgfalt für den eigenen Nachwuchs über Kreuz gerät. Frei nach Tucholskys „Tapfer ist, wenn weit weg“ ließe sich für das luxurierende Multikultimilieu sagen: Tolerant ist, wenn weit weg. Man kann sich einleben in einen Migrantenkiez, einschulen will man seine Kinder dort nicht.

Sarrazin lügt mit seiner Beschreibung der Missstände und auch der Missbräuche in den Unterschichts- und Migrantenfamilien keineswegs das Blaue vom Himmel, sondern spricht Wahrheiten aus, die zum Himmel stinken. Sie lassen sich mit sozialromantischer Empörung nicht wegprotestieren. Und dem Schönreden von Verhältnissen, die zu ändern man mehr als verbale Solidarität nicht hat, ist die aggressive Bestandsaufnahme à la Sarrazin trotz ihrer zwanghaften Züge vorzuziehen.

Das Problematische der sarrazininschen Ideen besteht nicht in den Einzeldiagnosen, sondern in der biologistischen Logik, mit der er Bruchstücke der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu einer pseudonaturwissenschaftlichen Weltanschauung fügt. Aber gerade diese Dimension bleibt in der sich selbst befriedigenden öffentlichen Empörung beschämend unbeachtet. Vielleicht auch, weil der so übereifrig den Bösewicht spielende Sarrazin mit seinem biologistischen Gesellschaftsbild, seinem Erbintelligenzlertum und seiner Gen-Rhetorik vielen Menschen der akademischen Mitte mehr aus der Seele spricht, als ihr Mund zugeben würde.

Und weil das kalte Interesse des Geldbeutels meistens über die Wärme des Herzens siegt, fände sicher manche Akademikerfamilie an dem Vorschlag Geschmack, den Sarrazin am Ende seines mit der Peitsche geschriebenen Buches als Zuckerbrot reicht: Das Kindergeld für alle wird gestrichen und durch eine akademische Fortpflanzungsprämie ersetzt: Frauen mit Hochschulabschluss bekommen für jedes Kind, das sie vor Abschluss des dreißigsten Lebensjahres zur Welt bringen, die schöne Summe von 50 000 Euro. Sarrazin hat nichts gegen Staatsknete, er will sie nur nicht politisch, sondern biologisch korrekt verteilen.

– Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 461 S., 22,95 €.

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