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Meinung: Schlechter Stil

Das Berliner Kirchner-Bild gehört den Erben: Die Kritik an der Rückgabe ist infam

Staatlicher Kunstdiebstahl gehört leider zur europäischen Kulturgeschichte wie die Jahrhunderte alte, irrsinnige Tradition von Stammeskriegen und Beutezügen. Zwischen 1933 und 1945 sind ungefähr 650 000 Kunstwerke in den Besitz des NS-Regimes und seiner Paladine geraten. Etwa 100 000 dieser Objekte sind nach Kriegsende verschwunden.

Der Raubkrieg der Wehrmacht und des NS-Regimes entwickelte sich zum umfangreichsten Kunstdiebstahl der deutschen Geschichte. Seine Folgen werden uns noch lange begleiten. Das zeigt der Streit um die Rückgabe des berühmten Kirchner-Bildes aus Berlins Brücke-Museum. Und das belegen in diesem Zusammenhang Ton und Richtung einiger erstaunlicher Diskussionsbeiträge. In letzter Instanz geht es in dem Konflikt um Schuldbewusstsein im Schatten deutscher Vergangenheit. Dass sie der Erosion des Vergessens ausgeliefert werden kann, beweist der Filbinger/Oettinger-Skandal der letzten Wochen.

Am 10. Januar 2007 konnten die Leser der „FAZ“ unter der bemerkenswerten Überschrift „Man sagt ‚Holocaust’ und meint Geld“ die Behauptung des Berliner Kunst-Auktionators Bernd Schultz lesen: „Die Wahrheit ist: Es gibt bei den bedeutenden Kunstwerken, die zur Identität unserer Kultur gehören, keine ungelösten, keine unklaren Fälle. Wer das bestreitet, sollte lieber gleich sagen, dass er den deutschen Rechtsstaat und den ganzen Wiederaufbau der Kultur nach 1945 für misslungen hält.“

Für diese Behauptung existiert kein Beweis. Im Gegenteil. Fangen wir mit dem Rechtsstaat an. Er existiert ja nicht erst seit dem Jahr 2007. Seine Repräsentanten in Politik und Verwaltung machen sich aus Erfahrung Sorgen darüber, dass es immer noch Kunstwerke in deutschen Museen gibt, deren Provenienz „unklar“ ist. Unter dem Eindruck der Washingtoner Konferenz zu Vermögensfragen von Holocaust-Opfern vom Dezember 1998 und insbesondere aufgrund der dort verabschiedeten „Grundsätze zum Umgang mit in der NS-Zeit beschlagnahmten Kunstwerken“ fand eine zweite, zögerliche Rückbesinnung in deutschen Museen statt. Einige verschlossene Türen deutscher Museums- und Kulturgeschichte wurden erneut geöffnet. Erste Gesten machten bereits 1999 deutlich, dass es sehr wohl noch „unklare und ungelöste Fälle“ gab. Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz fand eine Reihe wertvoller Bilder aus jüdischem Besitz in ihren Galerien, das Wallraff- Richartz-Museum in Köln und die Kunsthalle in Emden gaben Gemälde zurück oder kauften sie nachträglich. Die Dresdner Museen entdeckten seit 1991 in ihrem Bestand über 800 Objekte und Werke zumeist jüdischer Eigentümer oder deren Erben. In den Worten des Generaldirektors der Dresdner Museen, Martin Roth: „Was in jüdischem Besitz war oder ist, muss zurückgegeben werden.“

Kunstobjekte, deren Eigentümer nach 1945 nicht mehr ausfindig gemacht werden konnten (nicht selten, weil sie ermordet worden waren), landeten damals bei der deutschen „Treuhandverwaltung Kulturgut“. Von dort aus wanderten sie in die Zuständigkeit des Bundesministeriums der Finanzen, das zahlreiche Werke deutschen Museen zur Verfügung stellte.

Für die Mehrzahl der Bilder oder Skulpturen aus dem Eigentum von Verfolgten des NS-Regimes, die sich heute noch unerkannt in öffentlichen Sammlungen befinden, dürften formal-juristisch unangreifbare Eigentumstitel nur noch schwer nachweisbar sein. Auch die Verweigerung der Herausgabe unter Berufung auf abgelaufene Verjährungsfristen wird vorgekommen sein. Derlei Fristen dienen dem Rechtsfrieden. Aber Rechtsfrieden ist nicht identisch mit Gewissensfrieden und Recht nicht immer mit Gerechtigkeit. Das ist die Kernaussage der politisch auch für Deutschland verbindlichen Erklärung von Washington.

Den heutigen Besitzern, zumal staatlichen Museen, steht darum die Chance offen, frei von Rechtszwängen aus moralischen Motiven zu handeln. Doch über historische Begründungen moralischen Handelns zu räsonieren, setzt nicht nur juristisch schwer zu definierenden Anstand voraus, sondern auch umrisshafte Kenntnisse der Geschichte des „Dritten Reichs“. Und daran sollte es nicht nur in deutschen Museen, in denen Provenienzforschung nur ein Nebenfach war (und ist) bisweilen mangeln. Weil das vorauszusehen war, hatten sich Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände in einer gemeinsamen Erklärung 1999 darauf verständigt, alle Kulturgüter, die Gegenstand einer NS-verfolgungsbedingten Entziehung waren und sich heute noch im Besitz der öffentlichen Hand befinden, nach individueller Prüfung den früheren Eigentümern oder deren Rechtsnachfolgern auszuhändigen.

Auf dieser Grundlage und auf Veranlassung von Kultursenator Thomas Flierl ging Ernst Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“ nach sorgfältiger Prüfung aus dem Brücke-Museum zurück an die Rechtsnachfolgerin der Familie Hess, in deren Eigentum sich dieser Klassiker des deutschen Expressionismus ursprünglich befand. Die Erbberechtigte lebt in England und heißt Anita Halpin.

Als treibende Kräfte der Restitution wurden in publizistischen Beiträgen bestimmte Rechtsanwälte ausgemacht. Nicht irgendwelche Anwälte, sondern „skrupellose, ausgebuffte Restitutionsanwälte in den Vereinigten Staaten“, in den Worten des Berliner Auktionators Bernd Schultz, denen „die Öffnung aller deutschen Museen als Nachschub für den internationalen Kunstmarkt vorschwebt“. Falls jener Hinweis eines erfolgreichen Kunsthändlers, der auf dem internationalen Kunstmarkt einen guten Namen hat, wie eine übertriebene Selbstlosigkeit wirken sollte, so findet er doch ein Echo in der Behauptung des unverdächtigten, bereits erwähnten Dresdner Generaldirektors Roth, der mit den Worten zitiert wird, „es werde derzeit gezielt Raubkunst ausfindig gemacht, weil der Markt frische Ware braucht“.

Gegen einen moralisch begründeten politischen Beschluss der Berliner Kulturbehörde wurde also eine völlig andere Motivlage in Stellung gebracht: Geldgier der ursprünglichen Erbberechtigten und ihrer Rechtsvertreter sowie der Gewinnsog des Kunstmarktes.

In solcher ideologischen Interpretation der Kirchner-Rückgabe bestimmten also weder Recht noch Gerechtigkeit, und noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen – also, mit Marx gesprochen, lauter Überbauphänomene – das offenbar beklagenswerte Restitutionsgeschehen. Es läge vielmehr nacktes Gewinnstreben dem Wechsel des Bildes aus dem Museumsbesitz in die Hände der ursprünglichen Eigentümer beziehungsweise ihrer Rechtsnachfolger zugrunde. Damit bleiben zwei Hauptargumente gegen die Rückgabe übrig: Die Skrupellosigkeit amerikanischer Anwälte und Habgier. Oder, kürzer noch, das perfide Ausland und nacktes Profitstreben, deren Inbegriff natürlich in der infamen Überschrift aufscheint, es gebe eben gewisse Menschen, die „sagen ‚Holocaust’ und meinen Geld.“

Dass die Empfänger von Wiedergutmachungsleistungen, also die überlebenden Juden oder ihre Erben Teilnehmer eines „Geschäftes“ waren, hätten sie nicht gedacht. Die Idee ihrer möglichen Gegenleistung leuchtet in dem Wort von „Versöhnung“ auf, das im deutsch-jüdischen Diskurs inzwischen einen festen Platz hat. Deutschland, so scheint es, hat mittlerweile genügend „Versöhnungsarbeit“ geleistet, nun müsse endlich „Versöhnung“ herrschen.

Die politische Grundlage der Rückgabe war aber die erwähnte Washingtoner Erklärung. Die sie begleitende so genannte „Handreichung“ des Bundesbeauftragten für Angelegenheiten der Kultur und Medien hatte im Februar 2001 klargestellt, dass bei Rückgabeverhandlungen zu überprüfen sei, ob „der Abschluss des Rechtsgeschäfts“ – wie der Verkauf des Kirchner-Bildes an einen deutschen Sammler durch die ursprüngliche Treuhänderin Thekla Hess im Jahre 1936 – „seinem wesentlichen Inhalt nach auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus stattfand“. Zu überlegen wäre also, ob der Verkauf des Bildes durch eine deutsche Jüdin im Jahr 1936 in irgendeinem Zusammenhang stand mit der bereits seit 1931 üblichen Einforderung einer „Reichsfluchtsteuer“, die nach 1933 sehr verschärft zumal jene deutsche Juden betraf, die – wie Thekla Hess’ Sohn Hans, dem eigentlichen Eigentümer des Kirchner-Bildes – das Land mitsamt seinen Rassenämtern in der Tat fluchtartig verlassen hatten.

Die „Kunstsammlung Hess“ war 1933 in die Schweiz verbracht worden, um sie dem Zugriff des NS-Regimes zu entziehen. Die treuhändische Verwaltung lag bei der bis 1939 in Deutschland verbliebenen Witwe Thekla Hess. Alle Geschäfte, die sie tätigte, sind einzig im Licht ihrer bedrängten, KZ-gefährdeten Lage zu sehen, die Mitglieder ihrer Familie noch am eigenen Leib erleben sollten. Um die Reichsfluchtsteuer zu erpressen, pflegte die Gestapo zurückgebliebene Familienmitglieder zu inhaftieren.

Aufgrund jener „Handreichung“ war für Berlins Kultursenator außerdem zu überprüfen, ob der frühere Eigentümer aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurde und ob er sein Eigentum aufgrund dieser Verfolgung verloren hat. Dies ist angesichts der sofort nach Hitlers Machtergreifung einsetzenden Ausgrenzung der deutschen Juden zu bejahen. Die bis auf den Kunstbesitz wahrscheinlich mittellose Thekla Hess lebte bis kurz vor Kriegsbeginn unter anderem vom Verkauf der Bilder aus der Sammlung ihres Mannes. Insofern trifft die Bestimmung der „Handreichung“ zu, dass das „Verkaufsgeschäft dazu diente, die Vermögensinteressen des Verkäufers zu wahren“.

Es bedurfte einer gewissen historischen Unkenntnis, um zu dem Schluss des Provenienzforschers und Kirchner-Experten Andreas Hüneke zu kommen, der zu dem Fall wie folgt Stellung bezog: „Dass Hans Hess 1933 emigrierte, ‚um sein Leben zu retten’, ist eine Übertreibung … zu diesem Zeitpunkt bestand noch lange keine direkte oder unmittelbare Gefahr für die Sammlung“. Hätte die ganze Familie Hess vielleicht bis zu den Ereignissen der Reichspogromnacht mit über 600 jüdischen Opfern warten müssen, um vor der geistigen Auswanderungsbehörde des Kunsthistorikers zu bestehen?

Aus der Praxis der Wiedergutmachungsrechtsprechung folgt, dass Berlin als Betreiberin des Brücke- Museums hätte nachweisen müssen, dass die finanziellen Verhältnisse der Familie Hess nach 1933 in keinem Zusammenhang mit dem Verkauf des Bildes standen. Politische Weitsichtigkeit einer jüdischen Familie im Schatten der Nürnberger Gesetze sollte nicht ein halbes Jahrhundert später gegen sie in Anschlag gebracht werden. Wer die Raubzüge diverser NS-Organisationen kennt, weiß, dass ein Verbleib der Familie in Deutschland zur völligen Entrechtung und zum Vermögensverlust geführt hätte, von ihrer Überlebenschance ganz abgesehen.

Aber all das interessiert einige Autoren von „artnet“ nicht. Im August 2006 beklagt dort Henrike Schulte die „nebulöse Spannbreite von Entscheidungsmöglichkeiten“ in der Washingtoner Erklärung und in der „Handreichung“, „die den Gerechtigkeitsbegriff dem Rechtsbegriff vorziehen und die Debatte um Rückgabeansprüche weg von formaljuristischen zu moralischen Ansprüchen drängen“. Im Licht solcher Kaltblütigkeit wirkt die Bemerkung des Kulturstaatsministers Bernd Neumann überzeugend, dass „die Grundsätze der Washingtoner Konferenz im Bezug auf Kunstwerke nicht zur Disposition stehen“.

Angesichts der jüngsten Revisionsbemühungen im Falle Filbinger gewinnt solche Haltung eines konservativ gestimmten Christdemokraten einen unverhofften Glanz, der ihn abhebt von Berliner Parteifreunden, denen nichts Besseres einfiel, als gegen moralisch argumentierende Berliner Beamte mit dem klassischen Instrument deutschen Obrigkeitsdenkens vorzugehen – mit der Staatsanwaltschaft. Der CDU-Politiker hingegen argumentiert auf der Grundlage eines moralisch und historisch fundierten Anstands, dem bei der Nennung des Wortes „Holocaust“ nicht das Wörtchen „Geld“ einfällt, sondern „Schuld und politische Verantwortung“. Letztere kann der Berliner Kulturbehörde von keiner deutschen Staatsanwaltschaft abgenommen werden. Diejenigen, die sich treu gegenüber den moralischen Verpflichtungen verhalten, die uns aus der Geschichte zugewachsen sind, mit dem Vorwurf der Untreue oder der Vermögensverschleuderung zu überziehen, ist ein starkes Stück und ein Rückschritt in die Trotzhaltung der 50er Jahre.

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