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Meinung: Schrecklich normal

Von Björn Seeling

Die Mauer ist ein seltsames Ding. Einerseits sind wir froh, dass sie weg ist. Andererseits bräuchten wir sie noch – als Anschauungsobjekt. Wir vergessen so langsam, wie es war, als der gelernte Tischler Walter Ulbricht und der Dachdecker Erich Honecker lieber Maurer sein wollten. Ausgerechnet in Berlin gibt es keine Orte mehr, die ein authentisches Bild der Teilung vermitteln. Selbst an der offiziellen Gedenkstätte in der Bernauer Straße lässt sich die Monströsität der Mauer – trotz vorbildlicher Dokumentation – nur erahnen. Ganz zu schweigen von der East Side Gallery, deren quietschbunte Gemälde erst nach der Grenzöffnung entstanden sind. Touristen fragen angesichts der farbenfrohen Idylle, was wir Berliner denn nur für ein Problem mit der Mauer haben.

Was tun? Den Mini-Ulbricht spielen und einen Mini-Todesstreifen wieder aufbauen? Ein-Euro-Jobber in Uniformen stecken und Grenzpatrouille spielen lassen?

Wohl kaum. Die Chance, ein Stück authentischer Mauer zu erhalten, ist vertan. Steuergelder für eine Scharade auszugeben verbietet sich von selbst. Was wir aber konservieren können und müssen, das sind Erinnerungen. Das aktuelle Forschungsprojekt des Vereins Berliner Mauer und des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam weist die Richtung. Die Forscher dort ermitteln die genaue Zahl der Maueropfer und dokumentieren gleichzeitig die Lebensgeschichten und Todesumstände in Wort und Bild. Vor 15 Jahren war es undenkbar, dass Wissenschaftler solch ein Projekt in Angriff nehmen. Schnell hätten sie sich dem Verdacht ausgesetzt gesehen, dass sie die deutsche Teilung und damit verbundenes Leid relativieren würden.

Der Mauer zu gedenken heißt, sich vor allem an ihre Grausamkeiten zu erinnern. Zuallererst. Dazu gehört aber auch, die schreckliche Normalität in ihrem Schatten nicht zu vergessen. Denn die Menschen in Ost und West hatten sich fast ausnahmslos damit abgefunden, dass es auf absehbare Zeit kein Miteinander mehr geben werde. Das Leben mit der Mauer war ja nicht nur ein täglicher Kampf um die Freiheit. Man lebte und lachte, auch im Osten. Man dachte nicht ständig an den Mauerhorror. Die West-Berliner flogen nach Paris oder Palma und fühlten sich dennoch eingemauert. Wer von Ost-Berlin ans Schwarze Meer fuhr, der stellte sich vor, die Reise ginge ans Mittelmeer.

Angesichts der Unfassbarkeit der Teilung wird es immer schwerer, den Nachgeboren zu erklären, was sich da zwischen 1961 und 1989 auf deutschem Boden abspielte. Wer heute um die 20 ist, hat keine Ahnung mehr davon, dass die Welt am Potsdamer Platz zu Ende war. In der Schule hat er nur ein paar Unterrichtsstunden lang gehört, dass da mal was Trennendes war zwischen Ost und West. Die Mauer im Kopf – wir brauchen sie. Zur ständigen Erinnerung.

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