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Meinung: Schröders letzte Wende

Das Moderieren hat sich der Kanzler verbaut – jetzt bleibt nur noch: reformieren

Was für ein Jahr für den Kanzler. Überall ist er gewesen. Eine Ubiquität, die der politische Witz bisher nur dem Vielflieger Hans-Dietrich Genscher zuschrieb: Zwei Flugzeuge begegnen sich über dem Atlantik; in beiden sitzt Genscher.

Bei Gerhard Schröder bezieht sich das Überall nicht auf den geographischen Globus. Er begibt sich in der innenpolitischen Welt zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate auf einen atemberaubenden Kollisionskurs zu – sich selbst. Nicht nur in Kleinigkeiten, nein, in den großen Linien seiner Politik. Der Wahlkämpfer Schröder dementierte im Sommer den Kanzler der neuen Mitte, der er noch Anfang 2002 sein wollte, den pragmatischen Modernisierer. Er verleugnete auch die uneingeschränkte Solidarität zu Amerika, die er selbst ausgerufen hatte. Weil Edmund Stoiber ihm nicht den Gefallen tat, sich in die rechte Ecke stellen zu lassen, sondern selbst die Mitte bediente, wich Schröder weit auf den linken Flügel aus und stimmte Klassenkampflieder an.

Doch nun, zum Jahresausklang, konterkariert Schröder wiederum fast alles, was er im September zugesagt hat. Nun heißt es: Steuern und Abgaben runter. War nicht er es, der die zweite Stufe der Steuerreform verschoben hatte, weil sie nicht finanzierbar sei? Und: Hatte nicht dieser Kanzler den Wählern versprochen, keine weiteren Zumutungen, schon gar keine Aufweichung des Solidarprinzips und Mehr-Klassen-Medizin? Jetzt singt das Kanzleramt das Hohelied der Selbstverantwortung, der Wahlmöglichkeit zwischen voller Risikoabdeckung oder Tarifen mit Bonus und Beitragserstattung bei höherer Eigenbeteiligung. Der Schwenk wirkt so entschlossen, dass die Union nicht opponiert, sondern ruft: Das ist doch unser Programm!

Das sind keine kleinen Korrekturen, wie sie die Macht des Faktischen jedem Politiker im Alltag abverlangt – und die sich mit etwas Geschick interpretieren lassen, als befinde sich die Regierung immer noch auf Kurs. Früher wirkte das Strickmuster – eins rechts, eins links – noch nicht so verstörend: als Schröder die unternehmerfreundliche erste Stufe der Steuerreform mit der gewerkschaftsfreundlichen Betriebsverfassung gegenpufferte. Doch für diese Doppelstrategie hat er in diesem Jahr weit übersteuert. Er fährt zickzack zwischen zwei völlig gegensätzlichen Zielen, dem gewerkschaftlichen Umverteilungsstaat und der liberalen Bürgergesellschaft mit individueller Eigenverantwortung.

Und nun? Ist Schröder jetzt wieder der Genosse der Bosse – und war der wahlkämpfende Boss der Genossen nur gespielt, um doch noch in den zweifelhaften Genuss einer zweiten Amtszeit zu kommen? Oder ist umgekehrt das neue Strategiepapier gar nicht ernst gemeint, sondern nur ein kleiner Stimmungstest, wie viel Widerstand sich regt, was dem Gewerkschaftsflügel zuzumuten ist und was nicht? Das wäre riskant. Weniger wegen des neuen Lügenausschusses, den Schröder sich ja wohl kaum als Bühne wünscht, um einmal mehr seine schauspielerischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Sondern weil Gerhard Schröder verspielt, was zu den wichtigsten und wertvollsten Ausstattungen eines Politikers zählt: dass er für etwas steht. Als Schröder 1998 antrat, traute man ihm Reformen zu. Er galt als dynamisch, pragmatisch, allenfalls seine unverstellt flapsige Sprache, mit der er bei zu vielen aneckte, minderte die Hoffnung auf Modernisierung im Konsens ein ganz klein wenig. Doch sein Wahlsieg und seine Regierungserklärung weckten Aufbruchsstimmung.

Wäre die Gesellschaft in einer Gefühlslage wie damals, könnte allein die offensive Präsentation des Strategiepapiers etwas bewegen. Nur: Wer glaubt heute noch, dass Schröder tatsächlich anstrebt – und durchsetzt – , was er ankündigt? Nach all den Wenden und Wendungen dieses Jahres? Bleibt auch dieses Papier Rhetorik, auf die der nächste doppelte Salto rückwärts folgt, dann hätte Schröder sich endgültig als Luftikus geoutet – politisch beliebig, wie der Wind weht.

Spricht irgendetwas dafür, dass Schröder das als seine letzte Chance begreift? Vielleicht dies: dass seine Kanzlerschaft nicht Episode bleiben, dass sie ein Markenzeichen verdienen soll. Nicht aus der ganz großen historischen Kiste – Westbindung, Ostpolitik, Einheit. Aber wenigstens Reform der Sozialsysteme. Manchmal bleibt nur starkes Hoffen.

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