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Meinung: Sehr geehrte Unbekannte

Mit Sonia Gandhi siegt der Pluralismus – Indiens Zukunft ist damit noch nicht gesichert

Nein, nein“, riefen die Abgeordneten der indischen Kongresspartei, als der ehemalige Finanzminister Manmohan Singh die Fraktionskollegen im indischen Parlament fragte, ob jemand eine Alternative zur Wahl Sonia Gandhis an die Fraktionsspitze vorschlagen wolle. Der Architekt der indischen Öffnungspolitik Anfang der 90er Jahre wäre selbst so ein Kandidat gewesen. Aber Sonia, Witwe des ermordeten Ministerpräsidenten Rajiv Gandhi, wurde mit überwältigender Mehrheit an die Parteispitze gewählt. Nun wird sie die Regierung der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt übernehmen.

Es ist der Stoff für Märchen: Die älteste demokratische Partei Asiens, Begründerin des modernen Indien, war bereits abgeschrieben. Nun wurde sie mit den Stimmen der armen Landbevölkerung zurückgeholt. Von jenen zwei Drittel Inder, die vom „strahlenden Indien“, von Wirtschaftsboom, IT-Revolution, Call Centern und Softwarefabriken und dem neuen Superreichtum in den Ballungszentren nicht profitiert hatten. Ministerpräsident Atal Bihari Vajpayee, seit 1998 im Amt, hatte die Wahl auf der Höhe eines beispiellosen Aufschwungs vorzeitig angesetzt. Nun musste er lernen, dass ein Wirtschaftsboom, der nur wenigen nützt, nicht reicht.

Die Revolte der Armen gegen seine allzu selbstsichere Regierung bedeutet auch die Wiedergeburt der Gandhi-Familiendynastie und macht eine katholisch erzogene Europäerin zur Premierministerin. Vajpayees BJP verlor besonders dort, wo Hindunationalisten blutige Vernichtungsorgien gegen Moslems anzettelten. Die Wähler, sagte Gandhi, haben gezeigt, wie die Seele Indiens wirklich aussieht: „Unsere Nation schließt alle ein, sie ist säkular und einig.“

Zu Recht beglückwünscht die Welt Indien zu diesem so demokratisch vollzogenen Wechsel. Auch die politischen Ambitionen Gandhis sind lobenswert. Mehr soziale Gerechtigkeit und Harmonie in einem Land, in dem ein Drittel der Software-Ingenieure und ein Viertel der Unterernährten der Welt leben, kann keine schlechte Sache sein. Wo die BJP ein gutes Erbe hinterlässt, setzt die Kongresspartei auf Kontinuität – etwa beim Friedensprozess mit Pakistan. Auch die Reformpolitik soll weitergehen, die Indien ein Wirtschaftswachstum von acht Prozent bescherte.

Aber Gandhi wird hart arbeiten müssen, um ihre Versprechen zu verwirklichen. Sie muss eine Koalition mit einem bunten Strauß von Linksparteien schmieden, auch mit den stärker gewordenen Kommunisten. Die Verpflichtung, die sie nun für die 300 Millionen verarmter Landbewohner hat, zwingt sie, andere Akzente zu setzen. Traditionelle Industrien, die Landwirtschaft werden im Vordergrund stehen. Privatisierungen von Banken und Fluglinien musste sie schon in Koalitionsverhandlungen opfern. Subventionsabbau, Deregulierung der Ölindustrie, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Freihandel, überhaupt die grundlegend positive Einstellung zur Globalisierung – mit all diesen Reformprojekten wird sie sich schwer tun. Die entscheidende Frage ist, ob die Investoren aus Indien und Übersee bei der Stange bleiben. Der Börsencrash vom Montag zeigt, dass Indien nicht automatisch der Liebling von Auslandsinvestoren bleiben muss. Das Vertrauen der Kapitalmärkte muss sich Gandhi erst verdienen.

Auch über dem Friedensprozess steht zumindest ein Fragezeichen. Gandhi wird den Kurs nicht ändern. Aber man muss sehen, ob die gebürtige Italienerin ähnlich gut mit Pakistans Präsidenten Muscharraf umzugehen versteht wie Vajpayee. Viel hängt auch davon ab, ob die BJP in der Opposition zur alten antipakistanischen Hindurhetorik zurückgekehrt.

Überhaupt wird Indien auf der Weltbühne eine andere Rolle spielen. Die Hoffnung, indische Soldaten im Irak einsetzen zu können, muss sich der US-Präsident Bush wohl aus dem Kopf schlagen. Doch die völlig unbekannte Karte ist Sonia Gandhi selbst. Sie hat wenig politische Erfahrung und muss sich als Außenseiterin in den Intrigen eines komplexen politischen Systems zurechtfinden, dem schon mancher Gandhi zum Opfer fiel. Nun muss sie diese Schwäche zur Stärke machen und gerade als Außenseiterin im Vielvölkerstaat Indien zu einer Kraft des Ausgleichs werden.

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