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Sexualität und Gesellschaft: Die andere Seite der Vielfalt

Vom Fall Sebastian Edathy bis zur Gleichstellung: Wenn Sexualität politisch wird, bestimmen Vorurteile, Reflexe, Verdrängung und Rechthaberei die Debatte. Muss das so bleiben?

Sebastian Edathy hat uns mit einem Verhalten konfrontiert, das schockiert. Er sagt, er habe sich „Material“ bestellt, und meint nackte Jungen in Bildern und Filmen. „Eindeutig legal“ findet er das, wirft den Behörden vor, seine Existenz zerstört zu haben und fordert damit unausgesprochen ein Recht ein, das wieder schockiert: als Mann mit mutmaßlich pädophiler Neigung so leben zu können, wie er will. So lange er keine Gesetze bricht.

Es soll hier nicht um das „Material“ gehen und die Abscheulichkeit, es herzustellen oder nachzufragen. Es soll um die politische Seite von Sexualität gehen, um die Akzeptanz ihrer Vielfalt, wie sie in Baden-Württembergs umstrittenem Bildungsplan gepredigt wird; um Tabus und um Grenzen, die wir verteidigen wollen, um das, was wir unterscheiden, gleich behandeln, in Schulen lehren, ablehnen oder strafbar machen wollen.

Kein "Wir" der Sexualität

Ein Problem ist: In der Sexualität gibt es kein „Wir“. Es gibt das Heer der Heteros und es gibt Lesben, Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle und alles mögliche dazwischen. Es gibt das Schattenreich der Perversionen, die heute Paraphilien heißen und als psychische Störung gelten. Zudem gibt es in der öffentlichen Diskussion Eiferer und Propagandisten, die Ressentiments schüren oder ausbeuten; eine Fülle offener und verdeckter, zufälliger und gewollter Missverständnisse; ein Tohuwabohu um Begriffe. Es gibt unnötige Überheblichkeit und überzogene Empfindlichkeit. Sexualität ist politisch, auch im schlechten Sinn.

Konsens ist deshalb illusorisch, Rechthaben ausgeschlossen. Zumal Sexualität etwas Höchstpersönliches ist und die Wissenschaft bei ihrer Erforschung eher ratlos. Es wäre ein Argument dafür, den Rahmen des Sagbaren weit zu stecken; zuzulassen, was einem selbst nicht gefallen muss.

Wunsch nach Nachkommen

Nicht immer hat man den Eindruck, dass dies gelingt. Wer etwa behauptet, Homosexualität sei widernatürlich, erntet den notorischen Shitstorm, bezieht sich damit vermutlich aber nicht auf die Biologie, sondern auf Lehren seiner Moral oder Religion. Entsprechend sollten derlei Positionen auch auf dieser Ebene bestritten werden. Eine Attacke auf die Menschenwürde liegt darin nicht automatisch. Jüngst erregte ein Talkshowgast bundesweit Aufsehen, weil er als Vater einer zehnköpfigen Kinderschar „froh“ darüber war, dass keiner seiner Söhne schwul sei.

Keine sensible Bemerkung, gewiss, aber auch keine, die man gleich auf sich beziehen müsste; der Herr sprach von Gefühlen, die niemand teilen muss. Manche Eltern freuen sich tatsächlich über eine Null-acht-fünfzehn-Sexualentwicklung ihrer Kinder. Das bedeutet aber nicht, sie zu verstoßen, wenn es anders kommt. Wenn Homosexualität natürlich ist, was sie natürlich ist – natürlich ist auch der Wunsch nach Kindern oder Enkelkindern.

Veränderung der Rechtslage für Homosexuelle

Ein anderes Problem sind die Rechte Homosexueller. Vor allem in jenen 70 Ländern, in denen homosexuelle Handlungen menschenrechtswidrig verboten sind. Wer deswegen fliehen muss, bekommt in Deutschland Asyl. Auch in Russland ist die Lage bedrückend, wo ein Macho-Präsident auf Homosexuellen herumtrampelt, um seinem Volk zu gefallen. Die Verteufelung und Verfolgung Homosexueller sind Schandkapitel der Zivilisationsgeschichte. Erwähnt werden sollte, dass der Sex unter Männern auch in der Bundesrepublik erst 1994 vollständig entkriminalisiert wurde. Der Gesetzgeber hatte lange geglaubt, (junge) Männer könnten Schaden nehmen, wenn ein Mann sie verführt. Ein Tatbestand, der Unrecht war. Eine angemessene Entschädigung steht noch aus.

Seit jenen Jahren jedoch hat sich der offiziell-öffentliche Umgang mit Homosexualität grundlegend gewandelt. Bürger, Medien, Politik, alle haben sich bewegt. Die damalige rot-grüne Koalition hat den Wandel mitvollzogen und im Jahr 2000 das Lebenspartnerschaftsgesetz verabschiedet. Weil der Ehebegriff im Grundgesetz seinerzeit als exklusive Verbindung zwischen Mann und Frau interpretiert wurde, blieb nur dieser Weg.

Das Bundesverfassungsgericht billigte die Lösung gegen die Stimmen einiger Richter. Der damalige Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier kritisierte, es gäbe nun „keinerlei Grenzen für eine substanzielle Gleichstellung mit der Ehe“. Nicht nur das, installiert war damit ein juristischer Automatismus. Unter dem Regime des Gleichheitssatzes musste die einstige Hilfskonstruktion zum vollwertigen Ehe-Pendant ausgebaut werden. Was die Politik nicht schaffte, besorgte Karlsruhe.

Gleichberechtigung, aber nicht Gleichheit

Die Gleichberechtigung ist heute nahezu Wirklichkeit. Neben dem symbolischen Schritt, die klassisch-bürgerliche Ehe für Homos zu öffnen, verbleibt als relevanter Rechtsnachteil das Verbot der sogenannten Volladoption eines nicht leiblichen Kindes durch beide Lebenspartner gemeinsam. Es wird über kurz oder lang fallen. Die so genannte Sukzessivadoption, die Justizminister Heiko Maas (SPD) jetzt allein deshalb schon regeln will und muss, weil es das Verfassungsgericht ihm so vorgeschrieben hat, ist eine Volladoption in Einzelschritten. Homo-Eltern lieben und fördern ihre Kinder, wie es Hetero-Eltern tun. Es gibt keinen Anlass für gesetzliche Verbote, keinen sachlichen Grund für den Ausschluss.

Trotzdem muss Gleichberechtigung hier nicht bedeuten, dass Homo-Paare und Hetero-Paare auch in jeder Hinsicht gleich sind. Aus Sicht der Jugendämter bleibt es bei der Frage nach der Eignung im Einzelfall. Welche Maßstäbe sollen gelten, wenn ein Homo-Paar exakt so geeignet ist wie ein Hetero-Paar? Entscheidend ist das Kindeswohl, die Prognose, wo es in stabilen Beziehungen konfliktfrei aufwachsen kann. Unter dem Aspekt „Diversity“ etwa schneiden Heteros gut ab. Sie bieten beides, Frau und Mann. Homo-Paare werden dagegen ein entspannteres Verhältnis zu ihrem Kinderwunsch haben als Paare, die es seit Jahren unglücklich versuchen. Für Adoptionen gilt es als wichtig, dass der Kinderwunsch nicht zum Trauma geworden ist. Wie will man diese Unterschiede sachgerecht bewerten?

Sie rechtfertigen keine Diskriminierung, geben jedoch Anlass zur Skepsis. Das Adoptionsrecht ist im Grunde das schlechteste Thema für Gleichstellungsdebatten. Bei Adoptionen geht es um das Wohl anderer, bei Gleichstellungsfragen um das eigene. Weshalb das tauglichste Argument für Homo-Adoption wäre, den Kreis der möglichen Eltern zu erweitern – im Sinne der Kinder, nicht der Bewerber. Leider hört man es selten.

Hohe Erwartungen an die Heteros

Oft dagegen vernimmt man die Forderung, Homosexualität möge als Teil „sexueller Vielfalt“ akzeptiert werden. So selbstverständlich dies klingt, verbunden ist damit auch, dass man von Heterosexuellen einiges erwartet. Das mag legitim erscheinen angesichts der Alltagsdiskriminierung, der Schwule und Lesben immer noch ausgesetzt sind. Umgekehrt dürfte allerdings auch mit der sexuellen Einfalt insbesondere von Männern umzugehen sein: Es ist wohl wirklich so, dass viele dazu neigen, Homosexualität abzulehnen, jedenfalls für sich selbst. Vielleicht deshalb, weil manche vor oder in der Pubertät eigene homosexuelle Erlebnisse hatten, das eine oder andere schwule Bedürfnis verdrängen, mehrheitlich erlebten Geschlechtsmustern entsprechen wollen. Zu wünschen wäre, dass Männer sich mehr mit sich beschäftigten, sich locker machen und auch mal angstlos und reflexfrei begehren lassen. Doch es dürfte kaum Sache der Politik sein, derlei Selbstfindungsprozesse anzuschieben.

Kein Zweifel, derartige kollektiv-männliche Gefühlslagen machen Outings wie das des früheren Fußballnationalspielers Thomas Hitzelsperger nicht einfacher. Doch ob sie das Verdikt „Schwulenhass“ verdienen, ist zweifelhaft. Wer etwa Gruppen ausgewachsener Männer in Situationen begleitet, in denen sie aufeinander angewiesen sind, wird bemerken, dass sie ihre soziale Gemeinschaft mitunter über ihren Bezug zu Frauen codieren. Homosexualität ist geeignet, sie zu irritieren. Kann sein, dass es schon bei der Mammutjagd so war, jedenfalls ist es heute so im Spitzensport. „Fußball ist noch eine Männerwelt“, sagt Alt-Torhüter Jens Lehmann, der von Outings abrät. „Man duscht zusammen, jeden Tag.“ Ein Homo-Hasser? Vielleicht beruht seine Ablehnung lediglich auf demselben Grund, aus dem Frauen in ihren Duschkabinen keine Männer dulden möchten.

Sollen Männer jetzt umlernen? Ihren hermetischen Welten begegnet man am zweckmäßigsten weder mit dem pädagogischen Zeigefinger noch mit dem Hinweis auf Muster-Outings – sondern mit der Anwesenheit von Frauen. Im Profifußball mag das illusorisch sein, anderswo nicht. Die flächendeckende Koedukation an Schulen dürfte mehr im Kampf gegen Homophobie geleistet haben, als alle Lehrpläne es je vermögen werden. Gleiches gilt für Frauen in der Arbeitswelt. So paradox es klingen mag, ein Schwuler, der gegen Homophobie zu Felde ziehen möchte, müsste für Quoten streiten. Auch davon hört man selten.

Outings und traditionellen Familienmodellen

Ob der Outing-Effekt uns hingegen wirklich so weit voranbringt, wie die Reaktionen auf Hitzelsperger nahelegen, ist zweifelhaft. In der Politik war Wowereit mal was Neues, Westerwelle schon langweilig, das lesbische Bekennen der neuen Umweltministerin schließlich haben die meisten nicht mal mitbekommen. Outings insbesondere in „Männerwelten“ als mutig und vorbildlich zu beklatschen, wie es kürzlich für den Fußball allseits eingefordert wurde, bedeutet außerdem zugleich, jene als feige anzuklagen, die andere Wege suchen – und dabei ebenfalls Respekt verdienen.

Die Akzeptanz sexueller Einfalt hieße auch, Nachsicht gegenüber jenen zu üben, die im politisch repräsentierten Auftreten von Schwulen und Lesben eine Gefahr für Kinder und Abendland erkennen. Natürlich ist dies Unsinn, nur: Menschen in demokratischen Gesellschaften haben das Bedürfnis, ihre Anliegen in der Politik gespiegelt zu sehen. Ersetzt der Diskurs über Minderheiten dauerhaft jenen von Mehrheitsthemen, werden sie unruhig. Jede rhetorische Zuckung eines Politikers in Richtung Ehe und Familie sogleich als homophobe Attacke zu geißeln, führt gewiss nicht dazu, auf beiden Seiten Vorurteile abzubauen.

Motive für den Widerstand

Eher werden in beschriebener Gemengelage Motive für den Widerstand gegen die Lehrplan-Leitlinien in Baden-Württemberg zu finden sein. Sexuelle Vielfalt, gut und schön. Zugleich ist sie nichts, was Eltern in Sachen Schulbildung ihrer Kinder vordringlich am Herzen liegt. Für sie ist Aufklärung über Homosexualität ein Thema unter vielen, zu Hause wie im Unterricht. Die Online-Revolte gegen das Projekt ist vermutlich nicht allein reaktionäres Aufbegehren, sondern verweist auch auf ein Misstrauen, ob die Eliten in den Ministerien mit den Präambeln ihrer Erziehungskonzepte die richtigen Prioritäten setzen.

Der Fall Sebastian Edathys zeigt nun beispielhaft, wie die vermeintlich festgefügten Kategorien „sexueller Vielfalt“ zerfließen können. Denn Vielfalt hat auch noch andere Seiten, solche, die höchst problematisch sind. Sebastian Edathy kompromittiert sich schon mit den Worten, die er für sein Verhalten findet, und dem Umstand, sich überhaupt mit rücksichtslosen Händlern eingelassen zu haben. Aber wie wäre es, wenn all dies nicht wäre, sich der ledige 44-Jährige hinstellte und sagte: Ich bin pädophil orientiert, und das mag zwar nicht gut so sein, aber ich kann nicht anders? In welche Kategorie würde dieses Outing fallen? Und was würde daraus folgen?

Empörung über Missbrauchstaten und Grenzen sexueller Vielfalt

Ja, was? Bei aller berechtigten Empörung über Missbrauchstaten, es soll Männer geben, die sich trotz ihrer Neigung an die Gesetze halten. Die sich sogar in Behandlung begeben, sich helfen lassen wollen. Es wäre wohl unangemessen, sich des Problems mit Hinweis auf Kriminalprävention auf der einen und Gesundheitsfürsorge auf der anderen Seite entledigen zu wollen. Der pädophile Mann (Frauen sind es selten), sofern er seine Sexualität nicht auslebt, stellt letztlich auch nur eine Variante sexueller Vielfalt dar, wenn auch eine unerwünschte, die eine liberale Gesellschaft dennoch ebenfalls zu akzeptieren hätte.

Weil das Ausleben von Sexualität hier den Bruch von Strafgesetzen bedeutet, werden Betroffene als Gefahr gesehen. Dabei sind sie schuldlos, so lange sie Kindern nichts antun. In aller Regel haben sie ein Coming-out hinter sich, häufig durch Begleitfantasien bei der Onanie. Doch wer hilft hier Heranwachsenden? Wem sollen sie sich anvertrauen in der Einsamkeit ihrer Entwicklung? Immerhin sollen es rund ein Prozent der Männer sein.

Betroffene werden als unheilbar Erkrankte zu einem klinischen Fall – oder zu einem für den Staatsanwalt. Es könnte aber auch hilfreich sein, ohne drohende Stigmata darüber zu sprechen, wenn etwa in der Schule über Sexualität und ihre „Akzeptanz“ geredet werden soll. Es könnte Kinder schützen und bei Betroffenen Vertrauen wecken, sich an Eltern oder Lehrer zu wenden. Doch so weit kommt es selten. Für die Akzeptanz sexueller Vielfalt wird politisch erst geworben, soweit es sich um bereits akzeptierte Sexualität handelt. Die andere Seite wird verdrängt.

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