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Meinung: „Sie hatten sieben Minuten, machen Sie bitte einen neuen Termin“

Roger Boyes, The Times

Was könnte einem Besseres passieren, als sich mitten in einer Demo von weißbekittelten Klinikärzten wiederzufinden? Kreislaufkollaps? Innerhalb weniger Sekunden wird man wiederbelebt von einem streikenden Mediziner, der im Bus aus Goslar angereist ist. Herzattacke? Kein Problem. Wann sonst sollte einem das Herz still stehen, wenn nicht im Kreise von wütenden Männer und Frauen vom Marburger Bund? Doch dann bemerkt man ihre Protestschilder „England, wir kommen! Tschüs Berlin, Hallo London!“ und kommt ins Grübeln.

Wenn ein ernsthafter Arzt glaubt, sein Leben könnte sich verbessern, wenn er auf einer überfüllten britischen Station arbeiten würde, dann stimmt etwas ganz grundsätzlich mit seinem Urteilsvermögen nicht. Vielleicht kann man in London reicher werden – aber nicht zufriedener als Arzt. Natürlich bin ich dafür, dass deutsche Ärzte mehr verdienen und weniger arbeiten. Für jeden anspruchsvollen Patienten wie mich ist das eine Frage der Selbstverständlichkeit und des Selbsterhaltungstriebs. Ich möchte nicht von einem 30-Jährigen operiert werden, dessen Hände zittern, weil er die Nacht durchgearbeitet hat. Aber das britische System gleicht nicht dem Paradies. Es wurde von Schatzkanzler Gordon Brown zwar mit Geld zugeschüttet, verfällt aber seit Jahrzehnten.

In England erodiert zunehmend das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Die Mutter eines Freundes hat nur noch ein Auge, und dieses Auge hatte sich entzündet. Ihr britischer Hausarzt führte ein kurzes Diagnosegespräch, untersuchte das Auge und gab ihr ein Rezept. Die Dame versuchte daraufhin, eine Frage zu ihrem Hüftschmerz anzubringen. Der Arzt schaute auf seine Uhr: „Sie hatten sieben Minuten, Mrs. C. Machen Sie bitte einen neuen Termin.“ Sieben Wochen später wurde ihre Hüfte untersucht.

Jeder Engländer kennt Dutzende solcher Geschichten. Die Frage, die mich beschäftigt, ist: Wäre Gottfried Benn zum Arbeiten nach England gegangen? Würde irgendein Arzt der älteren Generation – wie frustriert auch immer über das deutsche Gesundheitssystem – freiwillig in einem Land arbeiten, in dem es Untersuchungen nach der Stoppuhr gibt? Die Frage stellt sich, weil Benn, Dichter und Arzt, in diesem Monat 120 geworden wäre (und sich sein Todestag zum 50. Mal jährt) und sein Werk heute so passend und frisch ist wie eh und je – für Ärzte, für Patienten und für Deutschland.

Die medizinische Diagnose stellte sich für Benn als Mischung aus Wissenschaft und Nähe dar, ein intuitives Verständnis für die Patientenbiografie, samt aller Enttäuschungen, Frustrationen und Schwächen. Ältere Ärzte wissen, dass das wichtig, wenn nicht wichtiger ist als jede Kernspin- oder komplizierte Positronen- Emissionstomografie. Klar, eine Überbewertung der persönlichen Diagnose kann auch im Dilettantismus enden. Benns Gedicht „Nachtcafé“, in dem er Patienten nach ihren physischen Beschwerden typologisiert, erinnert an das Spiel, das angetrunkene Medizinstudenten spielen: „Grüne Zähne, Pickel im Gesicht winkt einer Lidrandentzündung./ Fett im Haar spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel.“

Aber Benn war bei seinen Krankengeschichten so präzise wie bei seinen Gedichten. Zeit, ein trainiertes Ohr und das Auge eines Pathologen: Das sind die Qualitäten, die man braucht, um Krankheiten, um das Befinden des Menschen und eben auch um die deutsche Malaise zu identifizieren und zu verstehen. Ich lege jedem, der sich für diese Phänomene interessiert, nahe, heute dem DRK Krankenhaus Westend einen Besuch abzustatten und dort einer Lesung von Benns Gedichten und Arztbriefen beizuwohnen. Dort arbeitete er, und es ist deshalb der ideale Ort, um an seiner Vision teilzunehmen. Westend ist bahnbrechend in Deutschland mit dem Versuch, moderne Kunst in die Therapie zu integrieren. Ich kann nur hoffen, dass junge Ärzte, die an Emigration denken, dorthin gehen. Benn war Militärarzt während zweier Weltkriege. Nach dem letzten hatte er Nachtdienst in Berlin. „Kein lyrisches Idyll“, musste er zugeben. „Aber all’ das muß sein, es ist gemäß und ich möchte es nicht missen.“ Deutsche Ärzte werden in Deutschland gebraucht. Wir sollten es möglich machen, dass sie bleiben können.

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