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Leben von den Resten des Westens: Ein Rom steht auf einem großen Flohmarkt in der Nähe von Devecser, Ungarn, auf dem Sperrmüll aus Deutschland und Österreich verkauft wird.

© Reuters

Sinti und Roma: Zu lange weggeschoben

Seit Mittwoch erinnert ein Denkmal in Berlin an die Verfolgung der Sinti und Roma während des Nationalsozialismus. Noch heute werden sie an vielen Orten in Europa diskriminiert - und die Politik schaut weg.

Fast 70 Jahre hat es gedauert, bis ein Denkmal eingeweiht wurde, das an die ermordeten Sinti und Roma erinnert. Prominent, sehr prominent waren die Gäste, die sich am Mittwoch in Berlin versammelten: Fast die gesamte Staatsspitze war gekommen, um den Überlebenden der Vernichtungslager und den Hinterbliebenen der Toten die Ehre zu erweisen.

Das Denkmal ermahne uns Europäer und uns Deutsche, die Sinti und Roma „bei der Wahrnehmung ihrer Rechte zu unterstützen“, sagte Angela Merkel. Aus dem Denkmal erwächst die Verantwortung für heute. Es ist wichtig, dass die Bundeskanzlerin dies mit der Autorität ihres hohen Amtes sagt: damit es in den Ohren hängenbleibt.

Zehn bis zwölf Millionen Sinti und Roma leben in Europa, die meisten auf der niedrigsten sozialen Stufe. Sie sind die wirtschaftlichen Verlierer der Umbrüche in Osteuropa. Wo sich Nationalismus breitmacht wie in Ungarn, brennen ihre Hütten. Aber auch im Westen wird auf ihrem Rücken Politik gemacht: In Frankreich hetzte 2010 Nicolas Sarkozy gegen sie, um sein Hardliner-Image zu polieren. Für Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich verkörpern die Sinti und Roma den „Asylmissbrauch“ schlechthin.

Von den vermeintlich so zivilisierten Europäern als der letzte Dreck behandelt zu werden, das kennen die Romvölker seit 600 Jahren. Damals sind sie vermutlich aus Indien eingewandert. Seitdem gelten sie als hoffnungslos rückständig, unbelehrbar, kriminell. Als die unbezähmbaren Wilden. Die Frauen fantasierte man sich als sexuell freizügig, die „nichts als Lust und Liebe“ brauchen, wie es Victor Hugo im „Glöckner von Notre Dame“ ausdrückte. Es ist dieselbe Mischung aus Verachtung und Faszination, die seit Jahrhunderten die Vorstellungen der Europäer von Arabern und Türken prägen. Immer geht es darum, die anderen abzuwerten, um selbst umso fortschrittlicher, aufgeklärter und glänzender dazustehen. Die Abwertung und Entmenschlichung endete im Rassismus des 20. Jahrhunderts und im Holocaust. Schätzungsweise 500000 Sinti und Roma wurden verschleppt und umgebracht.

Natürlich gibt es auch in der Gemeinschaft der Sinti und Roma viele Missstände.

Die Verantwortung aus der Geschichte ernst nehmen, heißt, mit der Abwertung aufhören und nüchtern die Probleme analysieren. Natürlich gibt es auch in der Gemeinschaft der Sinti und Roma viele Missstände. Es ist eine gnadenlose Macho-Gesellschaft, in der Frauen wenig zählen und auch Kinderhandel vorkommt. Wie bei anderen Völkern, die nirgendwo richtig ankommen, ist auch bei vielen Sinti und Roma die Familie, der Clan, wichtiger als der Einzelne. Wer sich emanzipieren will und einen eigenen Weg einschlägt, hat es schwer.

Daraus den Schluss zu ziehen, mit denen wollen wir nichts zu tun haben, die schieben wir ab, solange es irgendmöglich ist, ist der falsche Weg. Denn irgendwann werden auch Mazedonien und Serbien zur EU gehören, wohin will man dann abschieben? Anstatt Probleme zu vertagen, wodurch sie in der Regel nicht kleiner werden, könnte man nach pragmatische Lösungen suchen. Auf Dauer können diese Lösungen nur auf europäischer Ebene gefunden werden. Dazu bräuchte es einen Außenminister, der sich dafür starkmacht.

Gleichzeitig muss man sich um die Menschen kümmern, die schon hier sind. Neukölln macht es vor: Wenn man ihnen ordentliche Wohnungen zur Verfügung stellt, wie es ein katholisches Wohnungsunternehmen getan hat, hört die Verwahrlosung auf. Schulen haben neue Klassen eingerichtet, in denen Lehrer, Sprach- und Kulturvermittler versuchen, den Kindern aus Rumänien und Bulgarien Deutsch beizubringen und sie an das Schulsystem zu gewöhnen.

Aber nicht nur der deutsche Staat steht in der Verantwortung. Sinti und Roma könnten in der Einweihung des Denkmals eine Wertschätzung ihrer Gemeinschaft sehen und für sich die Chance ableiten, hier heimisch zu werden. Dazu gehört auch, sich an Regeln zu halten und Vertrauen in staatliche Institutionen zu entwickeln. Damit man sich nicht nur zu Trauerritualen im Tiergarten trifft, sondern in Amtsstuben und Ministerien, um gemeinsam die Zukunft zu gestalten.

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