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SPD: Am Abgrund

Schlecht ging's der SPD schon lange, doch nun steckt sie in einer existenziellen Krise. Das Debakel für die Partei bei der Bundestagswahl verändert das Land mehr als der schwarz-gelbe Wahlsieg

Lange her, dass Guido Westerwelle lästerliche Reden über die beiden sozialdemokratischen Parteien geführt und mit der zweiten die Union gemeint hat. Im Jahr 2009 hat die allgemeine Sozialdemokratisierung nicht einmal die FDP verschont. Linke, CDU, CSU, Grüne – die soziale Idee, könnte man meinen, hat genug Heimat im deutschen Parteiensystem. Macht nichts, dass die SPD selbst unter die Räder gekommen ist. Doch das 23-Prozent-Ergebnis der SPD verändert das Land mehr als der schwarz-gelbe Wahlsieg.

Denn der Platz ist vakant, den die SPD lange ausgefüllt hat. In ihrem Niedergang spiegelt sich nichts Geringeres als die Frage, wie Solidarität in der individualisierten Gesellschaft möglich ist. Und in einer Wohlstandsdemokratie kann man Solidarität ebenso gut in das schlichte Wort „Politik“ übersetzen: Es beschreibt die Fähigkeit einer Gesellschaft, kontrovers auszutragen und zu entscheiden, was für das Gemeinwohl richtig ist.

Die SPD selbst wird sich in einer existenziellen Krise zu einem Mindestmaß an innerer Solidarität durchringen müssen, um über Rezepte zum Überleben überhaupt nachdenken zu können. Die unvermeidliche personelle Neuaufstellung nach dem Debakel darf kein Durchmarsch nur eines Flügels sein. Andrea Nahles, Olaf Scholz, Sigmar Gabriel, Klaus Wowereit müssen sich jetzt als Sozialdemokraten beweisen, die sehen und beherzigen, dass es gelegentlich Dinge gibt, die größer sind als sie selbst. Diese Vier werden die Verantwortung tragen, wenn die SPD sich in den nächsten Wochen und Monaten neu aufzustellen beginnt.

Franz Müntefering, verzichtsbereiter SPD-Vorsitzender, hat nur noch die Aufgabe, einen geordneten Übergang möglich zu machen. Der gescheiterte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier wird heute vermutlich Fraktionschef, nachdem er sich am Sonntag zum Oppositionsführer ausgerufen hat.

Dieser Auftritt hat aber gezeigt: Steinmeier hat die Leiden der SPD nicht wirklich verstanden. Die rot-grünen Agenda-Reformen waren nützlich für das Land. Aber die Unfähigkeit, sie zu einer Überzeugungssache der deutschen Sozialdemokraten zu machen, ist einer der tieferen Gründe für das Wahldebakel, wichtiger als die große Koalition. Das Dogma der Schröder-Ära, wonach die SPD nur durch Regierungshandeln zu verändern ist, lässt sich in eine Oppositions-SPD überhaupt nicht mehr übertragen; eher zerstört sie sich selbst, als sich weiter „von oben“ lenken zu lassen. Die „soziale Idee“ der frühen SPD ist nämlich nicht die Kranken- oder Arbeitslosenversicherung. Die hat Bismarck erfunden, um den Sozialdemokraten das Wasser abzugraben, die in einer vordemokratischen Gesellschaft das Gleichheitspostulat der Französischen Revolution auch für die Arbeiter beansprucht haben. Der verwegene Gedanke, dass in der öffentlichen Arena die ganz normalen Leute mitentscheiden sollen, ist in den Demokratien Wirklichkeit und politisches Allgemeingut geworden.

Nicht nur die SPD, in ganz Europa befinden sich sozialdemokratische und sozialistische Parteien im Niedergang. Denn sie haben es nicht verstanden, dass ihr altes Postulat wieder auf die Probe gestellt wird: Die globalisierte Welt verteilt Rechte und Möglichkeiten zur Partizipation neu und ungleich. Die ganz normalen Leute spüren es und wenden sich ab. Die Finanzkrise hat die ökonomische Privilegierung der Wenigen und die politische Ohnmacht der Vielen dramatisch an den Tag gebracht.

Produktiv war die SPD für die Bundesrepublik, wenn sie beides war: Mitte und links, staatstragend und Schutzmacht der kleinen Leute. Dieser Platz ist leer. Andere Köpfe, linke Koalitionspartner können die SPD nicht retten, wenn sie ihre soziale Idee nicht auf die Höhe der Zeit bringen kann.

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