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SPD und Linke: Klempnerarbeit am Kapitalismus

Jede Zeit hat ihre Antworten, sagte Willy Brandt: Doch die Linke kennt sie nicht, und die SPD sucht sie nicht

Oskar Lafontaine liebt Provokationen, und die Stimmungslage des Landes liefert ihm ideale Bedingungen, um sein Naturell auszureizen: Die Leute denken, fühlen und reden über viele Dinge anders, als der politische und mediale Diskurs behauptet. Für die etablierte Öffentlichkeit gehören sich bestimmte Dinge einfach nicht; sie ist zimperlich und meint, dass Lafontaine schon demaskiert ist, wenn man ihm nachweist, er wolle im künftigen Programm der neuen Linkspartei aus dem „Kommunistischen Manifest“ zitieren. Selbst die linke „taz“ hält den Rückgriff auf diesen Text für einen bloßen „Retrotrip“. Lafontaine kontert, wie immer, offensiv: Erich Ollenhauer habe bei der Verabschiedung des Godesberger Programms der SPD 1959 gesagt, das Kommunistische Manifest sei ein Gründungstext der Arbeiterbewegung.

Das kann kein vernünftiger Mensch bestreiten. Und ein Problem der SPD des Jahres 2008 ist womöglich, dass es in dieser Partei fast niemanden mehr gibt, der das weiß. Oder besser gesagt: fühlt. Was Lafontaine aus dem Kommunistischen Manifest zitieren will, steht den Hartz-IV-Empfängern von heute nur sprachlich fern. Empfinden es nicht sehr viele Menschen als Wahrheit, dass „die persönliche Würde in den Tauschwerth aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die Eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt“ worden ist? Und fühlen das nur die Menschen in der Warteschlange bei der „Tafel“ oder „Arche“? Oder nicht auch die jungen Leute, die unter heftigem Druck ihren Platz in der Arbeitswelt finden müssen? Die jungen Familien, die mobiler und flexibler sein müssen, als Eltern kleiner Kinder sein können? Die älteren Arbeitnehmer, die das Tempo nicht mehr mithalten können?

Die Provokation gewinnt ihre Wirkung gerade dadurch, dass die Linke nicht sagen dürfen soll, was doch bis hinauf zum Bundespräsidenten alle wissen. Der gegenwärtige Kapitalismus ist aus den Fugen.

Wer links oder linke Mitte sein will, kann der „Linken“ kein Retro vorwerfen, wenn sie in der harten Realität der Gegenwart Analogien zu der Geschichte der Arbeiterbewegung sucht. Denn die überwältigende Erfolgsgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Herausbildung des europäischen Sozialstaats. Und der hat seinen ideellen Ursprung in der freiheitlichen Strömung der Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie. Sie hat auf der ganzen Linie gesiegt: Gegen die alten Obrigkeitsstaaten und gegen die kommunistische Konkurrenz, weil aus dem ungezügelten Kapitalismus eine marktwirtschaftliche Ordnung mit Regeln, Rechtsstaat, Freiheit und sozialer Sicherheit geworden ist. Ein Modell, das tausendmal attraktiver ist als der reale Sozialismus – das so attraktiv aber auch werden musste, weil die Arbeiterbewegung die Erniedrigung der menschlichen Würde unter den Tauschwert nicht ertragen wollte.

Zumal in der Bundesrepublik haben an diesem Sozialstaat viele Köpfe und Hände mitgebaut. Der Vater der „sozialen Marktwirtschaft“ heißt bekanntlich Ludwig Erhard. Die SPD befand sich damals noch in jenem 30-Prozent- Ghetto, aus dem der finstere Ex- Kommunist Herbert Wehner sie unbedingt herausholen wollte. Doch das Urheberrecht für die Idee vom Sozialstaat liegt bei den Sozialdemokraten. In anderen europäischen Sozialstaaten, besonders in Skandinavien, dürfen sie sich deshalb auch als die geistig und politisch führende Kraft verstehen.

Anders als in der alten und neuen Bundesrepublik: In der gibt es zwar, wie FDP-Chef Guido Westerwelle einmal treffend gesagt hat, zwei sozialdemokratische Volksparteien, nämlich die Union und die SPD. Der „rheinische Kapitalismus“ ist verwirklichter Sozialdemokratismus, doch regiert hat ihn überwiegend das „bürgerliche Lager“. Das ist definiert eigentlich nur durch die Chiffren FDP, CDU und CSU (neuerdings auch: die Grünen), nicht aber durch eine trennscharfe eigene Gesellschaftsvorstellung. Dominiert tatsächlich im bürgerlichen Lager die „Freiheit“ den Grundwertekanon, im sozialdemokratischen hingegen die „Gerechtigkeit“? Dieses Bild hat sich für kurze Zeit eingestellt, als die neoliberale Welle die CDU bis zu dem berühmten Leipziger Parteitag getrieben hat, der Angela Merkel und der Union 2005 das denkwürdig schlechte 35-Prozent-Ergebnis eingebracht hat. Seitdem agiert die Union unter ihrer Kanzlerschaft wieder so sozialdemokratisch wie eh und je. Aber erfolgreicher als die SPD.

Die hat für das Regieren eine böse Quittung erhalten, wieder einmal. Jedenfalls in der subjektiven Wahrnehmung der Sozialdemokraten folgte auf den Kanzler Helmut Schmidt der Exodus einer ganzen Nachwuchsgeneration: die Gründung der grünen Partei und ihr Aufstieg. Noch heftiger kam es nach Rot-Grün, und diesmal ist es ein direkter Aderlass. Aus der SPD und Gewerkschaften fließt ein Mitglieder- und Wählerstrom zur Linken, die aus der ostdeutschen Regionalpartei PDS eine bundesweit verankerte Kraft gemacht hat.

Einen „unvermeidbaren historischen Fehler“ hat Hans-Jochen Vogel das Verhältnis der SPD zu den Überresten der SED in den Anfangsjahren der deutschen Einheit genannt. Das stimmt zum Teil. Den Bürgerrechtlern aus der DDR, die in die SPD eingetreten sind, wären Ex-Kommunisten im gleichen Ortsverein kaum zumutbar gewesen. Doch die PDS konnte sich als Partei der ausgeschlossenen ehemaligen DDR-Eliten vor allem behaupten, weil die deutsche Einheit die damals noch junge SPD-Führungsgeneration kaltgelassen hat. Den historischen Moment haben Willy Brandt, Egon Bahr oder Vogel erkannt – Gerhard Schröder hat sich 1990 hauptsächlich dafür interessiert, ob er die Niedersachsenwahl gewinnt. Oskar Lafontaine musste mit dem Attentat, dem Zerwürfnis mit Brandt (eben wegen seiner Haltung zur Wiedervereinigung) und seiner gescheiterten Kanzlerkandidatur fertig werden.

Die SPD hat die PDS 15 Jahre ignoriert. Mit der Linken hält sie es nicht anders. Als politische Auseinandersetzung mit der neuen Konkurrenz kann man es jedenfalls kaum bezeichnen, wenn die SPD gelegentlich und sprunghaft über die Koalitionsfrage diskutiert. Als habe es die Erfahrungen des Magdeburger Modells, der rot-roten Regierungen in Mecklenburg-Vorpommern oder Berlin nicht gegeben, fängt die SPD immer wieder auf unterstem Niveau und ganz von vorn an, wenn sie auf die linken Herausforderer trifft.

In Hessen hat das zu einem Debakel ohnegleichen geführt. Für die Bundespräsidentenwahl zu einem Experiment mit dem Potenzial zwischen Katastrophe und Befreiungsschlag. Katastrophe, weil die Kandidatur von Gesine Schwan das Glaubwürdigkeitsproblem der SPD zweifellos verschärfen wird, die für 2009 im Bund jede Zusammenarbeit mit der Linken ausgeschlossen hat. Befreiungsschlag, weil in diesem Fall ein Bündnis mit der Linken einer Sozialdemokratin zur Mehrheit verhelfen soll, deren Antikommunismus über jeden Zweifel erhaben ist. Vielleicht lernt die SPD mit der eloquenten Schwan, wie ein politischer Diskurs mit einer linken Konkurrenzpartei ausgefochten werden kann, die Antworten auf den entfesselten Kapitalismus im Fundus des 19. Jahrhunderts und der Godesberger SPD finden will. Denn nichts anderes ist das Konglomerat, von dem die neue Partei lebt, die – eigentümlich genug für eine Linksformation – bisher ohne Grundsatzprogramm auskommt. Die Linke reklamiert jene Sozialdemokratie, die Schröder mit der Agenda tatsächlich aufgegeben hat: eine Partei, die Solidarität als staatliche Veranstaltung versteht, bei der man ungestraft Millionen Menschen ausgrenzen darf, wenn man ihnen nur genug Sozialtransfers gibt, damit sie passiv vor ihren Fernsehern sitzen bleiben.

Doch eine linke Partei, die sich auf Willy Brandt berufen will, muss wissen, dass zwar in den Geschichtsbüchern nachlesen muss, wer die Verhältnisse gestalten will. Aber es war eben Brandt, der seiner Partei auf den Weg gegeben hat, dass jede Zeit „ihre Antworten“ braucht. Die neue Linke hat sie nicht – und kann sich damit auch durchmogeln, weil die SPD nicht einmal den Mut hat, die richtigen Fragen zu stellen und mit der Linken darüber zu streiten.

Die Kanzlerschaft von Gerhard Schröder war ein doppelter Abschluss der sozialdemokratischen Erfolgsgeschichte. Mit Schröder ist ein sozialdemokratischer Typus abgetreten, auf den diese Partei in den verschiedenen Abschnitten ihrer Geschichte immer angewiesen war. Der am Zaun des Kanzleramts rüttelnde Schröder war die – seiner Zeit angemessene – Variante des Ursozialdemokraten, der sich aus der Enge herauskämpfen und bestehende Macht nicht akzeptieren will. Die politische Erzählung Schröders (oder auch die von Franz Müntefering) ist die der Bundesrepublik: Aufstieg aus Trümmern und bedrängten Verhältnissen, durch Bildung, Tatkraft, Ehrgeiz. Ein Schlussstein des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“ war Schröders Reformpolitik. Die Zeit hat der SPD zugewiesen, was das bürgerliche Lager unter Helmut Kohl zu lange verweigert hat: die Anpassung der deutschen Arbeits- und Sozialordnung an die neuen Bedingungen von Demografie und Globalisierung. Der Sozialstaat, dessen Herausbildung die SPD aus der Opposition angetrieben hat, musste von einer sozialdemokratischen Regierung zurückgestutzt werden. Bis heute zweifeln gerade die Anhänger der SPD daran, ob die Reformen ihn gerettet oder, im Gegenteil, zerstört haben.

Zeit ihres Lebens ist die SPD von den guten Bürgern und den kühnen Revolutionären belächelt und verachtet worden für ihre mühseligen Reparatur- und Klempnerarbeiten am realen Kapitalismus. Nichts anderes ist ja die „historische Mission“ der SPD. Schröders gute Bürger, das war die unionsgeführte Bundesratsmehrheit. Seine hehren Revolutionäre, das ist die sich konstituierende Linkspartei – in der sich zudem Lafontaine als letzter verbliebener Spitzenpolitiker zum „sozialdemokratischen Typus“ aufschwingt.

Als „Neofeudalismus“ bezeichnet Sigmar Gabriel die Bundesrepublik mit dem neuen Gefälle zwischen Arm und Reich. Anthony Giddens, der britische Soziologe, auf den die SPD-Modernisierer sich Ende der 90er Jahre bezogen haben, findet heute, dass der Liberalisierungsschub des Marktes seine Grenzen erreicht habe: Wenn er Führer einer Mitte- links-Partei wäre, schreibt Giddens, dann würde er zu denen gehören, die dem Kampf gegen Ungleichheit und gegen die Exzesse des Kapitalismus ein größeres Gewicht verleihen wollen. Vorausgesetzt, fügt er hinzu, dass sie keine Interessengruppen vertreten, also keine Traditionalisten sind.

Doch die SPD-Modernisierer, wie die beiden Vize-Vorsitzenden Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück, wagen sich nicht an die Exzesse, jedenfalls nicht so, dass man es merkt. Und die in der SPD, die über sie reden, landen zu oft beim linken Traditionalismus. Die Modernisierer wirken gelähmt durch die eigenen Taten – als glaubten sie selbst, dass die Agenda-Reformen ein letztlich neoliberales Machwerk waren. Im Mainstream der SPD, einschließlich des Vorsitzenden Kurt Beck, bildet sich das linke Selbstverständnis unter dem Druck der Lafontaine-Partei: Gerecht ist, wenn den Reichen genommen und den Armen gegeben wird.

Die Sozialdemokratie muss die epochale Aufgabe annehmen, den globalisierten Kapitalismus vernünftig regulieren zu wollen, zuerst in Europa. Weil „Gerechtigkeit“ für jede freiheitliche Ordnung unverzichtbar ist, wird Umverteilung eine große Aufgabe bleiben. Doch Giddens hat sehr recht mit seiner Warnung vor den „Traditionalisten“. In der globalisierten Welt können die Wohlstandsnationen die Kosten ihrer Verhältnisse nämlich nicht mehr externalisieren, weder an die ärmeren Nationen noch an die Zukunft.

Gebraucht wird ein sozialdemokratischer Typus, der seine eigene Anstrengung wieder für die unabdingbare Voraussetzung von Solidarität hält. Die verzweifelten Sozialdemokraten in der SPD und die übermütigen in der Linken sind sich ähnlicher, als sie zugeben. Sie sind kleinmütig. Die Linke will die Welt nicht mehr verändern; die SPD glaubt nicht mehr daran, dass man es doch wenigstens versuchen muss.

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