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Meinung: Stammtisch in der glücklichsten Stadt Deutschlands

Pascale Hugues, Le Point

Aus der Perspektive eines Stuttgarter Stammtischs ist Deutschland ein vom Aussterben bedrohtes Universum, in dem zwei Planeten, Millionen Lichtjahre voneinander entfernt, ihre Kreise ziehen, ohne sich jemals zu berühren; der eine heißt „daheim“, der andere „d’r Oschte“. „Daheim“: Maultaschen, Viertele und Wohlstand. „D’r Oschte“: Soljanka, Korn und Hartz IV. „Daheim“: das Karussell der Klassen A bis S auf dem Kreisel vor der „MercedesBenz-Welt“, der monumentalen Baustelle des von Daimler- Chrysler finanzierten neuen futuristischen Museums.

An einer Straßenlaterne fordert ein einsames Plakat der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands kühn die „30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich! Jetzt!“ und gaukelt den gebräunten Arbeitern in ihren kurzärmeligen Hemden die Erinnerung an den strahlenden Stern des real existierenden Sozialismus vor, wo ein anderer Klassenkampf herrschte. Am Ende der Fußgängerzone leuchtet der Mercedesstern in der Sommernacht wie der Stern von Bethlehem, der dem ins Trudeln geratenen Deutschland den rechten Weg zeigt.

Stuttgart erinnert an eine Riesenbrezel, eingeflochten in Autobahnzubringer, Brücken und Tunnels. Keine Fußgängerzone, die nicht plötzlich von einer vierspurigen Straße abgehackt würde, kein Spaziergang, ohne dass die kühle Abluft einer Tiefgarage einem um die Beine striche. In Stuttgart ist das Auto der große Maßstab, an dem sich alles misst: Reichtum, Erfolg, Potenz, Konkurrenz mit Asien, Überlegenheit über den Osten. Sogar das Glück. Von allen deutschen Städten empfindet Stuttgart sich als die glücklichste. Auf die Frage: „Leben Sie gern in Stuttgart?“ antworteten 81 Prozent der Befragten mit Ja. Nur das Zentralkomitee – und das Paradies – können gegen eine solch beseelte Einstimmigkeit ankommen.

Die Stuttgarter sind mit ihren Grünanlagen zufrieden und mit ihren Wohnungen, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, den Einkaufsmöglichkeiten, der ärztlichen Versorgung. Sie lieben ihre Schwimmbäder, ihre Sportanlagen, ihre Schulen, ihre kulturellen Einrichtungen und ihre Fleischküchle. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie eine solche Bürgerbefragung in Berlin ausfallen würde! Stuttgart wäre völlig mit seinem Schicksal zufrieden, würden nicht zwei Schatten das idyllische Bild verdunkeln. Die Stuttgarter meckern doch ein bisschen: über den Straßenverkehr und den Mangel an Parkmöglichkeiten!

Der Stammtisch, drei Männer mit Zigarre, vier Frauen mit goldenen Ohrringen und tiefen Dekolletés, betrachten „d’r Oschte“ mit griesgrämiger Miene: Verödete Städte, durch die nur hin und wieder ein armer kleiner Trabbi knattert. Eine Hölle, mit Kindermord, Alkoholismus, Neonazis. Keine Perschpegtive! Basta! „Mer jammern auf hohem Niveau“, gibt der Stammtisch in einem rasch heruntergeschluckten Anflug von Selbsterkenntnis zu. „Aber mer habe was g’schafft in denne 50 Jahr! D’r Oschte, die sen undankbar und ungeduldig. Die wollen alle die SED zurück!"

15 Jahre nach der Wiedervereinigung und 3 Wochen vor den Wahlen verrenken die Politiker sich, um in einem letzten Kraftakt noch ein paar östliche Stimmen zu erhaschen. Man möchte seinen Ohren nicht trauen, wenn man hört, wie Edmund Stoiber in Gummistiefeln – der neuen deutschen Wahlkampftracht – nach dem bayerischen Hochwasser Großzügigkeit und Tatkraft der „Frustrierten“ an den Ufern der Elbe lobt. Und wie der Ultraliberale Guido Westerwelle plötzlich sein Herz für die staatlichen Krippen und Kindergärten in Ostdeutschland entdeckt, wie er die kurzen Studienzeiten lobt und anderthalb Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer anerkennt, dass im Osten schließlich nicht alles so schlecht war.

Und dann Oskar Lafontaine, der großspurig verkündet, dass die Linkspartei die Vollendung der deutschen Einheit und die erste Organisation sei, wo der Westen nicht dominiere. Einzig der Stammtisch von Stuttgart schwimmt in dieser Flut von Lobpreisungen nicht mit.

Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke.

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