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Meinung: Stasi-Akten: Es geht nicht um Kohl

Der Umgang mit den Stasi-Abhörprotokollen verträgt keinen Streit nach schlichtem Reiz-Reaktions-Schema. Deshalb ist zu hoffen, dass ernsthaft über die Rechtsstandpunkte gerungen wird, über die in Marianne Birthlers Behörde und im Innenministerium gegenteilige Gutachten vorliegen.

Der Umgang mit den Stasi-Abhörprotokollen verträgt keinen Streit nach schlichtem Reiz-Reaktions-Schema. Deshalb ist zu hoffen, dass ernsthaft über die Rechtsstandpunkte gerungen wird, über die in Marianne Birthlers Behörde und im Innenministerium gegenteilige Gutachten vorliegen. Darf Birthlers Behörde Stasi-Unterlagen über Helmut Kohl an Medien und Wissenschaftler herausgeben oder darf sie es nicht? Nur das Recht darf in diesem Fall den Maßstab setzen, nicht Erwägungen machttaktischer oder politischer Art.

Das Stasi-Unterlagen-Gesetz gibt der Behörde eine starke Stellung, weil nicht ein Minister allein, sondern das gesamte Kabinett die Rechtsaufsicht führt. Weder Schily noch das Kabinett scheinen sehr darauf erpicht, von dieser Position Gebrauch zu machen. Der Fall Kohl geht vor Gericht und Richter werden darüber entscheiden. Demokratische Normalität nennt Marianne Birthler das zu Recht.

Auch die politische Frage, ob am Streit über Kohls Rechte einmal mehr und ganz besonders ungerecht die Schräglage zwischen Ost- und Westdeutschen sichtbar wird, taugt nicht als Maßstab. Denn so seltsam es ist, dass gerade der mächtige Kohl zum Exempel wird: Es geht nicht um Sonderrechte für Wessis. Es geht um Schutzrechte, um das informationelle Selbstbestimmungsrecht von prominenten Stasi-Opfern.

Natürlich ist es nicht leicht, ausgerechnet in diesem Ex-Kanzler ein Stasi-Opfer zu sehen. Ist er doch seit einem Jahr der prominenteste Täter der Republik, ein unbußfertiger dazu, der nicht aufklären will und hartnäckig schweigt, wo das öffentliche Interesse an der Wahrheit dringlich ist. Es fällt schwer, diesem Mann ein Recht einzuräumen, von dem jeder Lehrer, jeder Hauswart der ehemaligen DDR das Gefühl hat, es stünde ihm nicht zu. Das Recht darauf, dass vertrauliches Wissen bleibt, was er einst vertraulich gemeint hat. Ein Wissen, das ihm Gerichte und Medien abringen dürfen - nicht aber die Stasi, die es ihm fernab jeder Rechtsstaatlichkeit abgejagt und in Protokollen ihrer fragwürdigen Lesart zusammengefasst hat.

Genießt eine Person der Zeitgeschichte, die nicht als IM verdächtigt wird, sondern unstrittig Stasi-Opfer ist, dieses Recht oder nicht? Das Gutachten der Birthler-Behörde sagt dazu: Nein. Birthler selbst führt die Praxis der Behörde ins Feld, die solche Unterlagen über andere prominente Abhör-Opfer, darunter übrigens Otto Schily, früher herausgegeben hat. Das Gutachten des Innenministeriums sagt: Ja. Und diese Position hat immerhin soviel für sich, dass der bloße Verweis auf bisherige Gewohnheiten unbefriedigend bleibt. Denn gerade Macht und Machtmissbrauch von Kohl illustrieren, welche Gratwanderung beginnt, wenn eine demokratische Gesellschaft die Informationsbeschaffungsbehörde einer Diktatur nutzt, wenn ihre rechtsstaatlichen und öffentlichen Mittel zur Aufklärung nicht ausreichen.

Wenn Kohls Unterlagen zugänglich werden, dann geht es nicht mehr um Kohl und nicht mehr um die CDU-Parteispenden. Es wird sehr schnell darum gehen, ob der demokratische Wettbewerb zwischen den Parteien ständig mit Munition aufgeladen werden kann, die aus der giftigen Quelle Stasi stammt.

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