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Meinung: Stehversuche in Ruinen

42 Jahre Diktatur und sieben Monate Krieg haben Libyen grausam verwüstet

Noch dröhnen Nato-Kampfjets über Libyen, noch sterben Rebellen und Gaddafi-Schergen an den Fronten. Und immer noch verhöhnt der flüchtige Despot per Satellitenfernsehen sein Volk und seine Gegner. Für Libyens Aufständische ist der militärische Sieg nach sieben Monaten Kampf inzwischen zwar zum Greifen nahe, doch damit ist der nationale Neuanfang nach 42 Jahren Diktatur noch lange nicht gemeistert.

Erst allmählich wird die ganze humanitäre, politische und gesellschaftliche Katastrophe des Bürgerkrieges deutlich. Der jüngste Bericht von Amnesty International über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit – auch auf Seiten der Rebellen – lässt erahnen, welche enormen Hypotheken im Land aufgelaufen sind. Mindestens 30 000 Tote, mehr als 50 000 Verletzte und mehr als eine Million Menschen, die früher in Libyen gelebt und gearbeitet haben, sind in Panik außer Landes geflohen.

Zurück geblieben ist eine Gesellschaft, deren soziales und politisches Gewebe in Fetzen liegt. Das riesige, ölreiche Land durchlebt seine Stunde null, ohne an irgendwelche demokratischen Vor-Gaddafi-Erfahrungen anknüpfen zu können. Aus der Königszeit geblieben sind den sechs Millionen Einwohnern nur eine Fahne und ein paar romantische Erinnerungen.

Und so nutzte Übergangspräsident Mustafa Abdul Jalil seine erste De-facto-Regierungserklärung auf dem Grünen Platz in Tripolis, um allen extremistischen Ideologien eine scharfe Absage zu erteilen und den moderaten Islam als künftige Wertebasis zu definieren – ein Versuch, die zerrissene Nation auf eine neuen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Scharia als Quelle des Rechts – in westlichen Ohren löst das schnell Alarm aus, für die einheimischen Muslime dagegen ist es nahezu selbstverständlich. Fast alle Staaten des Nahen und Mittleren Ostens haben dies in ihren Grundgesetzen verankert. Und nicht nur in Libyen, auch in Tunesien und Ägypten beteuern post-revolutionäre Islamisten, sie würden künftig demokratische Entscheidungen und pluralistische Gesellschaften akzeptieren. Was davon Bestand behält, wenn sie eines Tages an die Macht kommen, kann heute niemand sagen.

In Libyens Rebellenführung jedenfalls weiten sich die Risse: zwischen Säkularen und Islamisten, Einheimischen und Exil-Rückkehrern, abtrünnigen Gaddafi-Getreuen und langjährigen Regimegegnern sowie zwischen den drei wichtigsten Städten Benghazi, Misrata und Tripolis. Immer aggressiver fordern die islamistischen Kämpfer und ihre geistlichen Paten, von denen viele unter Gaddafi im Gefängnis gesessen haben, ihren Anteil an der Macht. Und erstmals in Tripolis unter dem Militärkommando eines ehemaligen Afghanistan-Gotteskriegers avancierte „Allah ist groß“ nun zum zentralen Schlachtruf der Rebellen.

Fast jeder im Land hantiert mit einer Waffe herum. Ganze Wohnviertel und Städte liegen in Trümmern. Von Tausenden Gaddafi-Opfern fehlt jede Spur. Und nahezu täglich beschwört Übergangspräsident Jalil seine Mitbürger, keine Rache zu üben und sich nicht an dem Eigentum von Regime-Getreuen zu vergreifen. Bislang halten die Dämme, die große Abrechnung ist ausgeblieben. Der Weg zu einer versöhnten Gesellschaft aber wird lang und beschwerlich werden.

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