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Streben nach Unabhängigkeit: Das Zauberwort heißt Respekt

Respekt für den, vor dem, der anders ist. Anders von Herkunft, Religion, Hautfarbe und Sprache. Nationale Minderheiten streben nur dann nach Unabhängigkeit, wenn die Mehrheit es an Achtung fehlen lässt.

Dauernd wird Respekt gefordert. Migranten erwarten, dass sie von der schon lange hier ansässigen deutschen Bevölkerung nicht von oben herab behandelt werden. Diese wiederum wünscht sich Respekt der Neubürger vor den Landessitten. Was im Kleinen zählt, Respekt, ist auch beim Zusammenleben innerhalb eines Staates die Basis jeder Gemeinschaft. Letztlich steht bei fast allen Konflikten die Einhaltung genau dieses, für ein friedliches Zusammenleben fundamentalen Gesetzes im Mittelpunkt: Respekt für den, vor dem, der anders ist. Anders von Herkunft, Religion, Hautfarbe, Gebräuchen, Sprache und Geschichte.

Als der Internationale Gerichtshof in Den Haag (IGH) in der vergangenen Woche die Unabhängigkeitserklärung Kosovos als rechtens einordnete, ging es geradezu exemplarisch um diese Frage. Das Gericht akzeptierte mit seinem Gutachten, dass sich Minderheiten von Mehrheiten lossagen dürfen, wenn sie ihre Identität im größeren nationalen Verbund nicht gewahrt oder gar unterdrückt sehen, wenn ihnen kein Respekt entgegengebracht wird. Rund um den Globus gibt es Regionen mit vergleichbaren Sorgen wie in Kosovo. Ist das Den Haager Urteil also eine Art von Ermutigung für Separationsbestrebungen weltweit? Hat das Gericht mit seinem Rechtsgutachten eine Büchse der Pandora geöffnet und die Welt unsicherer gemacht, wie ein holländischer Zeitungskommentator befürchtet?

Wohl kaum. Denn zum einen hat das Gericht ausdrücklich festgelegt, seine Wertung habe keinerlei präjudizierenden Charakter für ähnliche Situationen. Zum anderen haben die hohen Richter auch ganz bewusst keinen Kriterienkatalog zusammengestellt, an dem man künftig abmessen könnte, wo die Voraussetzungen für eine Ablösung vom bisherigen Staat gegeben sind und wo nicht. Zweifellos aber zwingt das Beispiel Kosovo die meisten Staaten weltweit, jedenfalls diejenigen, die demokratisch verfasst sind, sich über die eigene Situation Gedanken zu machen. Diesem Prozess der Selbstvergewisserung können sich nur diktatorische Länder verweigern, die jedes Bemühen um regionale, religiöse oder sprachliche Autonomie bei Minderheiten mit brutaler Gewalt zu unterdrücken bereit sind. Die demokratischen Nationen, die lange glaubten, den Weg der Repression gehen zu können, haben längst dazugelernt. Italien gewährte Südtirol schon 1972 erfolgreich Autonomie. Frankreich trennt sich, zögerlich, von zentralistischen Übertreibungen und akzeptiert zum Beispiel bei den Bretonen deren Eigenheiten. Spanien entzog dem Terror der Eta durch mehr Freiheit für das Baskenland den Nährboden und vor allem jede Rechtfertigung. Auch gab die Zentralregierung in Madrid den Katalanen großzügigen Gestaltungsraum in ihrer Mittelmeerregion – den freilich das oberste spanische Gericht gerade wieder einschränken wollte. Und England hat vor wenigen Wochen um Verzeihung für brutale Übergriffe gegen die nordirischen Katholiken und deren schändliche Kriminalisierung vor wenigen Jahrzehnten gebeten.

Minoritätenprobleme können aber nicht nur problematisches Erbe der eigenen Geschichte sein; sie können auch innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte neu entstehen. Deutschland wird sich dessen erst langsam bewusst. Erst seit sich die Politik von der Lebenslüge verabschiedet hat, die Bundesrepublik sei kein Einwanderungsland, beginnt hier eine offene Diskussion über den Umgang mit Minderheiten. In einem nur von wenigen bewusst wahrgenommenen, sich über Jahrzehnte hinziehenden Migrationsprozess hat sich die Bevölkerungsstruktur völlig verändert. Jeder fünfte in Deutschland Lebende hat heute einen Migrationshintergrund – vom Statistischen Bundesamt gerade festgestellt. Berechnungsbasis waren die nach 1950 zugezogenen Ausländer und ihre Nachkommen. Allein die türkischstämmige Community, gleich welchen Pass ihre Mitglieder und deren Verwandte nun haben, zählt fast zwei Millionen Menschen.

Übung im Umgang mit kleineren, lange hier ansässigen Minderheiten hat Deutschland allerdings schon seit Jahrzehnten. Die 60 000 Sorben in der Lausitz konnten sich schon in DDR-Zeiten auf besondere kulturelle Rechte etwa im Schulwesen berufen, diese wurden mit dem 1. Oktober 1990 im Einigungsvertrag festgeschrieben. Im Norden der Republik, in Schleswig-Holstein, sind die rund 50 000 dänischstämmigen Bürger über den Südschleswigschen Wählerverband von der Fünf-Prozent-Klausel befreit und haben einen garantierten Sitz im Landtag. Dass der SSW bei der letzten Landtagswahl fast 70 000 Zweitstimmen bekam, zeigt, dass seine überparteiliche Ausrichtung auch über die eigentliche Zielgruppe hinaus Anerkennung findet. Deshalb sitzen zurzeit auch zwei Vertreter des SSW im Landesparlament.

In der Ära der Globalisierung schien weitgehende ethnische und kulturelle Identität innerhalb der Grenzen eines Staates kein zeitgemäßer Vorzug mehr zu sein. Wie stark solche Übereinstimmungen aber das Zusammenleben in einem Land erleichtern würden und wie sehr das Fehlen solcher gemeinsamer Überzeugungen zu einem geradezu dramatischen Verfall der Staatsfundamente führen kann, erleben die Europäer gerade jetzt in Belgien, einer der sechs Kern- und Gründungsnationen der Europäischen Gemeinschaft. Der Staat der Flamen und Wallonen droht auseinanderzubrechen. Der französischsprachige Teil dominierte in der Vergangenheit das Königreich, solange die Montanindustrie von Bedeutung war. Damit ist es seit Jahrzehnten vorbei. Heute verarmt die Wallonie zusehends und ist von Arbeitslosigkeit gepeinigt. Der flämische Teil jedoch prosperiert dank aufstrebenden Handels, vielfältiger Dienstleistungen und moderner Technologieunternehmen. Und während die einstige Eliteschicht der Vergangenheit nachtrauert und trotzig Hilfe einfordert, mag die neue, nach Holland orientierte Mittelschicht nicht vergessen, dass die Menschen ihrer Sprache von den Frankophonen lange Zeit wie Bürger minderen Rechtes und tumbe Dummköpfe behandelt wurden. Der Konflikt sitzt so tief, dass ernsthaft über eine Teilung des Landes nachgedacht wird.

Die gravierendsten Mehrheiten-Minderheiten-Konflikte schwelen jedoch in Südosteuropa und auf dem Balkan. Sie hatten ihre Zündfunken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach der Vertreibung der Türkei aus ihren europäischen Besatzungsgebieten entstand dort ein Vakuum, die staatliche Neuordnung war problematisch. Als genauso schwerwiegend erwies sich jedoch, dass die alliierten Siegermächte des Ersten Weltkrieges vor allem vom Willen getrieben waren, die unterlegene Doppelmonarchie Österreich-Ungarn zu zerschlagen und nachhaltig zu schwächen. Die sogenannten Pariser Vorortverträge trugen in sich den Keim neuer Krisen und Kriege. Die in ihnen verankerten Grenzziehungen waren oft willkürlich. Diese Konflikte sind immer latent gewesen, und sie brachen erst in den letzten Jahrzehnten auf, als 1989 der zwangsweise einigende, wie ein Korsett wirkende Sozialismus kollabierte.

Hauptleidtragende der Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg waren die Ungarn. Im heutigen Staat dieses Namens leben 9,5 Millionen Menschen, die sich als dem ungarischen Volk zugehörig betrachten. In Rumänien leben 1,5 Millionen Ungarn, in der Slowakei 500 000, in Serbien 300 000, und auch in Kroatien, Slowenien und Österreich gibt es nennenswerte ungarische Minderheiten. Die neue Budapester Regierung von Viktor Orbán schürt die latenten Konflikte mit den Nachbarländern, seit sie den Auslandsungarn, in ihren Staaten allesamt in der Minderheit, „eine neue Ära nationaler Einheit“ versprochen und die ungarische Staatsbürgerschaft und einen ungarischen Pass zugesagt hat.

Aber nicht nur in Europa haben die alten Mächte Unheil gebärende Grenzen gezogen. Noch viel mehr wüteten sie als Kolonialherren in Afrika gegen Strukturen, die sie nicht erkannten, und gegen Völker, die sie nicht interessierten und in denen sie Menschen zweiter Klasse sahen. Wer die wie mit dem Lineal gezogenen Staatsgrenzen in Zentral- und Südafrika auf der Landkarte sieht, ahnt, dass die meisten der seit Jahrzehnten in Schwarzafrika ausgetragenen Kriege den zerschlagenen Zusammenhängen zwischen den alten Kulturen entspringen. Auch hier brachen die schwelenden Differenzen erst spät aus, nach 1960, als die Kolonialmächte abzogen. In vielen Fällen waren sie sich der Gärungsprozesse überhaupt nicht bewusst – denn fast überall hatte der gemeinsame Kampf gegen die weiße Fremdherrschaft die Konflikte zwischen Stämmen und Volksgruppen lange Zeit erfolgreich überdeckt.

Während die Möglichkeiten der Europäer, die von ihnen letztlich verschuldeten Wunden der afrikanischen Völker zu heilen, eher gering sind, müssen sie sich zwingend Strategien überlegen, wie die Minderheiten-Mehrheiten-Konflikte in Südosteuropa friedlich beigelegt werden können. Immer neue Unabhängigkeitserklärungen immer kleinerer Einheiten sind kein Ausweg. Wir haben aus der Weltfinanzkrise am Beispiel der Lehman-Pleite gelernt, dass es weltweit operierende Unternehmen gibt, die man nicht zusammenbrechen lassen darf – sie sind „too big to fail“. In der Staatenbildung gibt es aber mit Sicherheit auch das Gegenteil: „too small to be successful“. Kosovo mit seinen knapp zwei Millionen Einwohnern dürfte auf Dauer ein solcher Fall bleiben. Zwar hat Luxemburg nur 500 000 Einwohner, ist aber mit seiner „Geschäftsidee“ des weltweiten Finanz- und IT-Dienstleisters überaus erfolgreich. Und: Das Land hat eine historische Tradition. Kosovo hat, außer einem überschießenden Nationalgefühl, nichts davon und wird ohne ausländische Hilfe und ausländische Schutzgarantien (und daraus resultierende Abhängigkeiten) nicht überleben.

Die größte integrative Kraft, solche ethnischen Konflikte auf Dauer einzuebnen, hat die Europäische Union. Es klingt banal, aber wirtschaftlicher Aufschwung und wachsender Wohlstand sind die erfolgreichsten Befriedungsmittel, die es gibt. Mit diesem Hintergrund lassen sich demokratische Entwicklungsprozesse erheblich überzeugender befördern, nach der Devise „Wachstum und Partizipation auf allen Ebenen für alle“. Die Geschichte der europäischen Einigung ist der schlagende Beweis dafür.

Fast alle Unruhen und Kriege mit ethnischem Hintergrund entstanden und entstehen wegen vermuteter oder tatsächlicher Benachteiligungen aufgrund von Rasse und Religion, sind eine Folge von Nepotismus. Wenn Außenminister Guido Westerwelle also Serbien und Kosovo nach dem Spruch des Internationalen Gerichtshofes an ihre europäische Perspektive erinnert, hat er die richtige Richtung gewiesen – aber vergessen, die richtige Reihenfolge und den richtigen Ablaufplan für den Weg nach Europa zu benennen. Einmal, im Falle Zypern, hat die EU den Fehler gemacht, das Land 2004 aufzunehmen, bevor eine Kernfrage – die nach der Zukunft des türkischen Teils der Insel – geklärt war. Einmal in die EU aufgenommen, konnten es sich die griechischen Zyprioten ohne Angst vor Folgen leisten, in einer Volksabstimmung den Vorschlag einer Föderation mit dem türkischen Teil abzulehnen. Hätte Brüssel die Reihenfolge anders festgelegt – erst erfolgreiche Abstimmung, dann Mitgliedschaft – wäre ein jetzt kaum mehr zu überwindender Dissens verschwunden.

Auf den Balkan übertragen, bedeutet es, dass weder Serbien noch Kosovo auch nur einen Schritt Richtung Europäische Union gehen dürfen, solange sie nicht die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Souveränität des jeweils anderen Staates akzeptiert haben. Wie es gehen kann, haben die Slowenen im Juni mit einer Volksabstimmung gezeigt, durch die der Weg zur schiedsrichterlichen Beilegung eines Grenzkonfliktes mit Kroatien frei gemacht wurde. Dadurch ist auch der Zugang Kroatiens in die EU frei. Gelingt es dann noch, den von Griechenland hochgeputschten Namensstreit mit Mazedonien zu heilen, wäre ein weiteres Teilstück des früheren Jugoslawien auf dem Weg nach Europa.

Dass die Freizügigkeit und die Gemeinschaftspolitik der Union in der Lage sind, im Laufe der Jahrzehnte nationale Ressentiments abzubauen, hat sie vielfältig bewiesen. Den Schwächeren im Konzert mit den Starken ihre Stimme zu geben und zu stärken, ist dabei das Erfolgsrezept. Es funktionierte im ganz Großen – und oft eben auch im Kleinen.

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