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Meinung: Streit um Stasi-Akten: Leitartikel: Im Zweifel für die Wahrheitsfindung

Helmut Kohl klagt vor dem Verwaltungsgericht Berlin mit dem Ziel, die Ausgabe von Stasi-Akten über ihn grundsätzlich zu untersagen. Das klingt zunächst einmal verständlich.

Helmut Kohl klagt vor dem Verwaltungsgericht Berlin mit dem Ziel, die Ausgabe von Stasi-Akten über ihn grundsätzlich zu untersagen. Das klingt zunächst einmal verständlich. Rechtswidrig erlangte Erkenntnisse über ihn - was sollen die in der Öffentlichkeit? Und dann ist da außerdem das mit der Verfassung geschützte "Recht auf informationelle Selbstbestimmung". Warum soll es gestattet sein, Details aus seinem Leben hervorzuzerren? Richtig ist, dass die Intimsphäre des Menschen Kohl jeden Schutz genießt - der Politiker als Person der Zeitgeschichte dagegen nicht. Kohl will nun das ganze Material komplett für tabu erklären, niemand soll mehr an seine Akten herankommen. Der Altkanzler will eine neue Rechtspraxis erzwingen. Wenn Kohl gewinnt, hat die Gauck-Behörde verloren: ihre Stärke durch jahrelang praktizierte Glaubwürdigkeit im Umgang mit den Akten. Dann kann das Kapitel geschlossen werden.

Die Gauck-Behörde soll aber das Material nicht einfach wegsperren. Das Stasi-Unterlagengesetz ist, wie der erste Behördenchef Joachim Gauck sagt, ein "Veröffentlichungsgesetz": Die Opfer sollen Einsicht bekommen, Täter ans Tageslicht kommen. Und die Öffentlichkeit soll erfahren, wie die Stasi gearbeitet, was sie angerichtet hat. Das sind die Fakten: Der private Bereich, der von der DDR-Stasi ausgeforscht wurde, ist geschützt. Aber alles, was zur dienstlichen Tätigkeit eines Politikers gehört, kann zugänglich gemacht werden. Die Veröffentlichung ist für die Forschung gestattet und für Zeitungen, um die Hintergründe politischer Aktionen offenzulegen. Die Stasi-Erkenntnisse dürfen herangezogen werden bei der Prüfung von Bewerbern zum Öffentlichen Dienst, aber auch in Strafverfahren.

Doch nun ist die Lage so: Der Spendenausschuss im Bundestag, der prüfen soll, ob die Regierung Kohl käuflich war, darf alle Beweise erheben, die er für erforderlich hält. Also auch Stasi-Material. Immer muss abgewogen werden. Ist das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung besonders wichtig, muss das Persönlichkeitsrecht zurückstehen. Wo Zusammenhänge vernebelt werden, kann im Einzelnen auch das Material eines verhassten Dienstes zur Aufklärung dienen und zu einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung verhelfen. Nicht die Frage, ob jemand Opfer ist oder Täter entscheidet über die Verwertbarkeit von Stasi-Akten, sondern vor allem der Gegenstand der Untersuchung. Die fragwürdige CDU-Spendenpraxis, zum Beispiel. Abgehörte Gespräche darüber gehören nicht zur geschützten Intimsphäre einer Person der Zeitgeschichte.

Inzwischen geht es allerdings auch nur noch mittelbar um Kohl. Die Geschichte ist über ihn hinaus, es geht ums Grundsätzliche. Und darüber droht ein Streit in der Koalition, ein tiefgehender: Innenminister Otto Schily, SPD, gegen Behördenchefin Marianne Birthler, Grüne. Die Grünen sagen, eine Sperrung der Akten würde die Aufklärung über die SED-Diktatur schwerwiegend einschränken. Aber nicht nur das: Der Presse darf nicht grundsätzlich verwehrt werden, die von der Stasi illegal gewonnenen Materialien zu verwenden, wenn sie zur Meinungsbildung beitragen.

Schily sieht das wohl anders, wie Kohl. Recht haben sie in einem: Immer muss abgewogen werden. Eine pauschale Verwertung der Stasi-Unterlagen ist genauso wenig angebracht wie eine pauschale Verwerfung. Die Gauck-Behörde hat aber dafür, dass sie sich seit neun Jahren an Recht und Gesetz hält, kein Misstrauen verdient. Für die neue Behördenchefin gilt das genauso. Ihre Aufgabe ist noch nicht erledigt. Es muss weiter aufgearbeitet werden, auch, was im Westen war. Darauf hat der Osten ein Recht.

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