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Streitschrift: Hauptstadt Berlin: Zeit für einen zweiten Start

Berlin ist Hauptstadt – bleibt aber weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Die Stadt braucht einen „Plan B“, eine Strategie für die nächsten Jahrzehnte. Auszüge aus einer am Montag erscheinenden Streitschrift von Volker Hassemer.

Die Hauptstadt hat sich in Berlin breitgemacht, sie ist stärker geworden, als sie in Bonn gewesen ist; sie wird mit größerem Interesse wahrgenommen, vor allem international, als zu Zeiten der „Bonner Republik“. Was wäre Berlin heute ohne seine Hauptstadtfunktion? Die Stadt wäre ohne Zweifel noch ratloser, als sie ohnehin schon ist, hätte noch weniger Boden unter den Füßen, weniger an existenzieller Hardware.

Das Erreichte ist in doppelter Hinsicht fragil. Der rein machtpolitische Aspekt einer Hauptstadt wird vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Regionalisierung auf der einen und Internationalisierung auf der anderen Seite an Gewicht verlieren. Dafür werden die repräsentativen, identitätsstiftenden Wirkungen einer Hauptstadt in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Diese Bedeutung muss man aber materiell ausfüllen. Zu diesem Zweck muss Berlin, wie man umgangssprachlich sagt, „Butter bei die Fische“ geben. Berlin muss eindeutig mehr sein als nur der Standort von Regierung und Parlament.

Man darf gar nicht daran denken, wie es in Berlin weitergegangen wäre, hätte sich der Deutsche Bundestag in seiner denkwürdigen Sitzung nicht mehrheitlich und fraktionsübergreifend für Berlin als Hauptstadt entschieden. Die gesamte Hauptstadtdiskussion – eigentlich schon der Umstand, dass sie überhaupt nötig war und am Ende ein nur knappes Ergebnis erbrachte – machte uns schon damals deutlich, wie weit die Deutschen, vor allem eben die Westdeutschen, bei allem Jubel über den Fall der Mauer davon entfernt waren, die Dimension der neuen Entwicklung zu erfassen. Wie wir Berliner waren auch sie nicht darauf vorbereitet, in diese neue Situation einzutreten. Und anders als die Berliner konnten sie sich diese Situation in einem gewissen Umfang vom Leib halten.

Unvorbereitet, unsicher im Hinblick darauf, was nun bevorstehen würde, waren auch die Berliner selbst, die Bürger und nicht weniger die Politiker. Hätten wir die existenzielle Abhängigkeit Berlins von der Hauptstadtverlagerung geahnt, wären wir ganz anders aufgetreten, hätten ganz anders argumentiert. Das gilt übrigens vergleichbar für das Thema des zügigen Abbaus der Berlin-Hilfe, das sich auf die Annahme stützte, Berlin würde, gerade aus dem Krankenbett gestiegen, unverzüglich die wirtschaftliche Kraft und Handlungsfähigkeit einer gesunden, über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich entwickelten Stadt zuwachsen.

Eine offene Strategiedebatte fand damals nicht statt

Die Folge dieser Annahme war nicht nur die zügige Rückführung der Hilfe, sondern letztlich die Verschuldung Berlins, was dann wiederum dem Argument eines – tatsächlichen oder scheinbaren – politischen Versagens („über die Verhältnisse leben“) nach der Wende Vorschub leistete. Eine offene Strategiedebatte fand zu all diesen Fragen damals nicht statt.

Die Kraftzufuhr erhofften wir uns damals nach dem Ende der Strangulation ja generell nicht vom Politischen, also von der Hauptstadtfunktion. Sie würde, so dachten wir, von der Wirtschaft kommen, deren Behinderungen nun verschwunden waren. Das aber stellte sich nicht ein. Von heute aus gesehen hätte man schon damals keine Rückkehr des industriellen Sektors erwarten dürfen. Auch bei den Dienstleistungen waren angesichts ihrer Etabliertheit an anderen Standorten nur geringe Zuwächse zu erhoffen. Und in den Auslandsbeziehungen (Ost-West) erwiesen sich die anderswo entwickelten Erfahrungen und Netzwerke als weitaus wichtiger als räumliche Nähe.

Bei den nackten Zahlen, die wir unseren Stadtentwicklungsplanungen zugrunde legten, hielt sich unser anfänglicher Optimismus hinsichtlich der Entwicklungen Gott sei Dank in Grenzen. Investoren, die sich nun neu für Berlin interessierten, waren da sehr viel offensiver, sowohl was die zu erwartenden Miethöhen als auch was die Quantität der Gesamtentwicklung anging. Bei unserer Ausweisung von zusätzlichen Wohngebieten gingen wir beim Flächennutzungsplan von bis zu 300 000 zusätzlichen Menschen im Zeitraum von zwanzig Jahren aus. Die Zielgröße beim Büroraum bewegte sich bei der Hälfte dessen, was wir in absoluten Größen vom damaligen Frankfurt am Main kannten. Gleichwohl blieb die Realität wegen des ausbleibenden wirtschaftlichen Booms deutlich hinter diesen Zahlen zurück.

Es fehlte an strategischen Analysen und wirklichen Schlussfolgerung

Ebenso wie die Annahmen nach 1989 nicht auf wirklich gründlichen strategischen Analysen gründeten, so wurden, als das Ganze nicht in Gang kam und sich die Hoffnungen immer mehr als unrealistisch bzw. ihre Verwirklichung als weitaus komplizierter als erwartet erwiesen, auch danach keine wirklichen Schlussfolgerung gezogen. Es fehlt bis heute an zielführenden Diskussionen oder entschiedenen neuen strategischen Ansätzen, an einem auf Realismus und die Erfahrungen der letzten zwanzig Jahren gestützten „Plan B“.

Dies ist das entscheidende Versäumnis Berlins mindestens in den zehn zurückliegenden Jahren. Spätestens gegen Ende der neunziger Jahre wurde immer deutlicher, was von den ursprünglichen Erwartungen realistisch war und was nicht. Das hätte den Anstoß geben müssen, bewusst, konzentriert und alle verfügbaren Kräfte der Stadt einbeziehend, an einem solchen „Plan B“ zu arbeiten. Das wurde versäumt. Hier wurde Berlins Zukunft verschlafen, obwohl sie, wie man inzwischen erfahren hatte, auf der Kippe stand.

Natürlich gab es auch im Ablauf der letzten zwanzig Jahren Erfolge, wirtschaftliche Zuwächse für Berlin. Zugleich aber wissen wir angesichts der Zögerlichkeiten dieser Entwicklungen inzwischen, dass wir uns einen zusätzlichen Qualitätssprung vornehmen müssen, wenn uns die Wirtschaftskraft der Stadt einigermaßen zuverlässig in die Zukunft tragen soll. Durch welche in Berlin vorstellbaren, sich vielleicht sogar der Stadt anbietenden neuen Triebkräfte ließe sich diese stabile wirtschaftliche Zukunft aufbauen? Diese Frage muss die Stadt für sich klären, um sodann ihre Strategien danach auszurichten; um zu tun, was zur Unterstützung solcher für möglich gehaltenen Perspektiven nötig und möglich ist.

Stadtentwicklung darf nicht dem freien Spiel der Meinungen überantwortet werden

Da Berlin noch immer in einer prekären Lage ist, können wir dieser Herausforderung nicht ausweichen. Nach meiner Überzeugung wird sie sich künftig auch für ganz normale Städte stellen. Dabei darf man Stadtentwicklung im hier skizzierten Sinne nicht einfach dem freien Spiel der Kräfte und Meinungen überantworten. Die Stadt ist heute und mehr noch in Zukunft in bisher nicht dagewesenem Maße auf überlegte, gut vorbereitete Strategien angewiesen.

Dazu ist ein neues Selbstbewusstsein, aber auch eine neue Sorgfalt und professionelle Disziplin nötig. Stadtpolitik ist im nationalen Kontext nicht mehr Politik dritten Wichtigkeitsgrades (nach der Bundes- und Landespolitik). Stadtpolitik wird künftig diese bisher vorrangigen Felder gleichsam von hinten her aufrollen. Sie kann zunehmend regionales (interregionales) und nationales (internationales) Gewicht für sich beanspruchen. Und sie muss wissen, dass sie diesen Ansprüchen gerecht werden muss.

Wir leben in einer Zeit, in der die Ansprüche an Stadtlenkung nicht nur von innen heraus steigen; die Bedeutung der Städte wächst im globalen Zusammenspiel. Die Verstädterung, also die Wanderung insbesondere der aktiven und nach Erfolg suchenden Bürgerinnen und Bürger in die Städte, ist eine nicht umkehrbare Entwicklung. Auch sie macht deutlich, dass die Städte weltweit unser Schicksal sind, dass sie unser Wohl und Wehe immer entscheidender bestimmen werden. Die Zeit ist also vorbei, als man sich um die Zukunftsfähigkeit der Stadt nicht sonderlich zu kümmern brauchte. Städte können sich immer weniger darauf verlassen, dass es schon irgendwie ausreichen werde, wenn die Verantwortlichen nach ihrem Gusto und in bester Absicht bauen. Ihnen wird eine permanente, den Zeitläuften gerecht werdende Qualifizierung abverlangt. Wer stehen bleibt, steigt ab.

Eine stabile wirtschaftliche Struktur wurde bisher nicht geschaffen

Es ist Zeit für einen zweiten Start, der auf Geleistetem aufbauen kann. Die Herausforderungen haben sich bis heute nicht geändert. Ausgangspunkt bleibt auch zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer die klaffende Lücke zwischen dem, was Berlin erreichen könnte, und dem, was Berlin schon erreicht hat. Der Grund für die Armut der Stadt ist nicht, dass sie zu nichts nutze ist; der Grund ist, dass sie ihr Möglichkeitspotenzial nicht ausgeschöpft hat. Die Potenziale Berlins lagen, soweit sie nicht vollends zerstört waren, über ein halbes Jahrhundert lang auf Eis. Eine Zukunft wird Berlin aber nur dann haben, wenn aus noch Erreichbarem Erreichtes geworden ist.

Erreicht wurde der Regierungsumzug, der Umzug von gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden, die gesamtstädtische Planung, die Planung der innerstädtischen Entwicklungsschwerpunkte (Potsdamer Platz, Regierungsviertel, Friedrichstraße usw.), ferner die Planung von Entwicklungsschwerpunkten wie Adlershof. Auch die neue Flughafenplanung gehört dazu. Erreicht wurde insbesondere die Aufladung einer Stadtatmosphäre, die insbesondere junge Menschen anlockt, und zwar auch dann, wenn sie sich nicht versprechen können, hier ihr gutes Auskommen zu haben.

Uneingelöst ist dagegen die Schaffung einer stabilen wirtschaftlichen Struktur, die der Größe der Stadt gerecht würde. Es steht die Lösung von Einzelthemen wie etwa die Nachnutzung der beiden Flughäfen an, das große Entwicklungsgebiet um den neuen Flughafen Schönefeld herum, die Entwicklung des Spreegebietes im Osten, überhaupt die ganze Strecke zwischen Zentrum und Flughafen.

Damit besonders nachdrücklich verbunden ist Prioritätensetzung und räumliche Aufgabenteilung. Offen sind aber auch qualitative Perspektiven wie der fördernde und nutzende Umgang mit der Kreativwirtschaft, offen ist eine Jahrhundertchance wie das Humboldtforum, überhaupt die Rolle der Kultur in Berlin und für Berlin (u. a. Opernlandschaft, Bildende Kunst). Aber auch das prekäre Verhältnis der Stadt gegenüber den Deutschen, deren Hauptstadt sie doch sein möchte, bedarf der Bearbeitung. Die emblematische Rolle Berlins als Ort des Mauerfalls, des Endes der Teilung der Welt, des Beginns von Freiheit und einer neuen Zeitrechnung – all das ist unausgeschöpft.

Volker Hassemer „Wozu Berlin? Eine Streitschrift“, 216 Seiten, Euro 19,80, ISBN 978-3-936962-87-1, Siebenhaar Verlag

Volker Hassemer

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