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Syriens Chemiewaffen: Kühles Blut, heißes Herz

Stützen oder stürzen? Syrien verfügt über eines der größten Chemiewaffenarsenale der Welt. Was passiert, wenn diese Waffen an die Hisbollah geliefert oder von Al Qaida erobert werden?

Wenn ein Tyrann innerhalb eines Jahres 8000 Menschen ermorden lässt, scheint jedes Mittel recht, ihn zu stoppen. Diplomatischen Druck erhöhen, Rebellen bewaffnen, Flugverbotszonen einrichten, militärisch intervenieren: Das Gewissen treibt zur Aktion. Ist nicht alles besser, als weiter zum Zuschauen verdammt zu sein? Die neue humane Devise heißt: nie wieder Stabilität vor Freiheit!

Die Inkarnation des gefühlskalten Realismus, Henry Kissinger, hat am Sonnabend in der „Washington Post“ mit Blick auf die US-Politik gegenüber der arabischen Welt viele Fragezeichen hinter einer zu radikalen Abkehr vom Stabilitätsgedanken gesetzt („A new doctrine of intervention?“). Sich nur auf das Ende der alten despotischen Regime zu konzentrieren und darüber die Konsequenzen außer Acht zu lassen – Wahlerfolge der Islamisten in Ägypten, zerfallender Staat in Libyen –, sei unverantwortlich, meint Kissinger. Auch der Widerstand in Syrien gegen Baschar al Assad „scheint nicht von Demokraten dominiert zu sein“.

Dieser Befund bekommt sein besonderes Gewicht durch einen zweiten: Syrien verfügt über eines der größten Chemiewaffenarsenale der Welt. Von Sarin bis Senfgas werden pro Jahr schätzungsweise rund hundert Tonnen waffenfähiges Material hergestellt. Als eines von nur sieben Ländern hat Syrien nicht die Chemiewaffenkonvention von 1992 unterzeichnet, die Produktion, Besitz und Gebrauch solcher Waffen verbietet. Und zu schlechter Letzt: Zwei der rund ein Dutzend Chemiewaffen-Produktionsstätten liegen in unmittelbarer Nähe der Städte Hama und Homs, wo der Aufstand gegen Assad am heftigsten tobt.

Was passiert, wenn diese Waffen an die Hisbollah geliefert, von Al Qaida erobert werden? Syriens Nachbarn sind diesbezüglich hochgradig nervös. In Israel spricht man von einer ebenso großen Gefahr wie durch das iranische Atomprogramm. Jordaniens Militär arbeitet mit der US-Army bereits Interventionspläne aus. Kaum weniger alarmiert ist man in der Türkei. Laut „Wall Street Journal“ wird die Gefahr, die von den syrischen Massenvernichtungswaffen ausgeht, von der Obama-Administration mit oberster Priorität angegangen.

Als abschreckendes Beispiel dient die Entwicklung in Libyen. Nicht nur lieferte der Westen dort modernes Gerät an die Rebellen, sondern diese plünderten auch große Waffenarsenale von Muammar Gaddafi. Inzwischen werden Tausende von Boden-Luft-Raketen, mit denen auch Flugzeuge abgeschossen werden können, von den Milizen über die Grenzen geschmuggelt und verkauft. In den Sudan, den Tschad, den Niger, nach Mali. Der UN-Sonderbeauftragte für Libyen berichtet von „außerordentlich großer Besorgnis“ in der Region.

Wir müssen lernen, schreibt Kissinger, Revolutionen nach ihrem Ziel zu beurteilen, nicht ihrem Ursprung, ihrem Ergebnis, nicht ihren Proklamationen. Das bedeutet, kühles Blut zu bewahren – trotz heißen, mitleidigen Herzens.

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