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Meinung: Tapferkeit vor den Populisten

Drei Vorschläge für den Aufbau in den neuen Bundesländern / Von Helmut Schmidt

Nie werde ich meine Freudentränen über die friedliche Öffnung der Berliner Mauer vergessen. Sie war gefallen dank der Gesinnung der Demonstranten, dank der Vorarbeit der polnischen Solidarnosc, dank der friedlichen Vernunft Gorbatschows und auch der kommunistischen Führungen in Budapest, in Prag und in OstBerlin. Heute, anderthalb Jahrzehnte später, bin ich traurig über die unbefriedigenden wirtschaftlichen Zustände in Ostdeutschland – und besonders darüber, dass so viele Menschen dort sich dazu verleiten lassen, ihr heute selbstverständlich risikofreies Demonstrationsrecht zu benutzen, um gegen ein notwendiges Gesetz zu protestieren.

Allerdings kann ich ihre Ängste gut verstehen, auch den Zorn, der sich seit langen Jahren aufgestaut hat. Denn seit 1995 ist der wirtschaftliche Aufholprozess in den ostdeutschen Ländern zum Stillstand gekommen. Die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie im Westen, die Wertschöpfung liegt bei weniger als zwei Dritteln. Zwar haben inzwischen viele ein Auto und fast alle ein Telefon. Aber viele der Jüngeren, die zu Hause keine Arbeit gefunden hatten, sind in den Westen abgewandert. Die Zurückgebliebenen leiden seelisch unter der anscheinend ausweglosen Arbeitslosigkeit.

Man war seit Generationen gewöhnt, dass Regierung und Staatspartei für alles sorgen. Wenn jetzt der Staat seine Leistungen einschränken muss und dabei versäumt, verständlich zu erklären und zu begründen, was geschehen muss, welche Wirkungen eintreten, aber ebenso, welche Ängste unbegründet sind, dann sollte die Regierung über die propagandistischen Erfolge von ehrlich Empörten, von opportunistischen Demagogen und von ökonomischen Wunderheilern nicht erstaunt sein. Jürgen Peters, Frank Bsirske, Lothar Bisky und Oskar Lafontaine gehören allen drei Kategorien zugleich an. Dagegen fehlt es an verständlich dargebotener Aufklärung! Deshalb ist heute für die Abgeordneten des Bundestages und der sechs Landtage im Osten (einschließlich Berlins) nichts wichtiger, als in jeder Stadt Hartz-Sprechstunden, öffentliche Frage-und- Antwort-Veranstaltungen, Aussprachen mit den Landräten und Bürgermeistern zu veranstalten. Dazu sind dann allerdings Stehvermögen und Tapferkeit unerlässlich.

Der Kanzler hat verstanden: Das Wohlergehen des Vaterlandes muss höher stehen als das der eigenen Partei. Hut ab vor seiner Standfestigkeit! Kein Politiker, egal welcher Partei, hat bisher ernsthaft versucht, den Aufholprozess der ostdeutschen Wirtschaft zu beschleunigen. Wenn nichts speziell zugunsten des Ostens geschehen sollte, so wird man im Jahre 2020 feststellen, weitere 15 Jahre nach der Vereinigung, dass es zwar auch im Osten vorangegangen ist, dass aber von Aufholen keine Rede sein kann.

Deshalb brauchen wir für die Wirtschaft im Osten eine besondere, allein den Osten begünstigende wirtschaftspolitische Anstrengung. Dafür stehen mindestens drei Vorschläge zur Verfügung – nicht etwa zur Auswahl, sondern zur gleichzeitigen Verwirklichung.

Erstens. Der Osten hat die Beseitigung einer Vielzahl von behindernden Paragrafen und Genehmigungsinstanzen nötig. Die ostdeutschen Landtage brauchen Spielraum für Deregulierung, damit sich ein gewerblicher Mittelstand entwickeln kann. Dafür müssen durch Grundgesetz und Bundesgesetz die sechs ostdeutschen Landtage ermächtigt werden, durch Landesgesetzgebung vom bisher geltenden Bundesrecht abzuweichen – so im Bau- und Planungsrecht, im Arbeitsrecht, im Wirtschaftsrecht und so weiter; detaillierte Vorarbeiten dafür liegen seit Jahr und Tag auf den Tischen der Wirtschaftsminister.

Zweitens. Jede Wertschöpfung im Osten braucht eine deutlich spürbare Mehrwertsteuer-Präferenz, zum Beispiel bis zum Jahre 2020 nur den halben Steuersatz. Vor einem Dutzend Jahren haben Karl Schiller und Tyll Necker diesen Vorschlag gemacht. Er ist immer noch vernünftig, zweckmäßig und einfach.

Drittens. Der Vorschlag, alle bisherige Wirtschaftsförderung im Osten künftig stark auf regionale Schwerpunkte – „Wachstumskerne“ – zu konzentrieren, ist dagegen erst seit einem halben Jahr auf dem Tisch. Er ist der wichtigste Teil eines ganzen Pakets, das der „Kurskorrektur des Aufbaus Ost“ dient.

Alle diese Vorschläge werden vielerlei Argwohn, Kritik und Ablehnung provozieren. Viele wollen auf der Welle der Anti-Hartz-Propaganda mitschwimmen. Zwar werden die Landtagswahlkämpfe im September einige Prämien für populistischen Opportunismus bereithalten, zumal zugunsten der PDS. Sie werden aber offenbaren, wer über Vernunft und Charakter verfügt, über Stehvermögen und Tapferkeit.

In Notzeiten müssen die Verantwortlichen zusammenwirken, so wie während der Flut in Sachsen und Brandenburg und wie zur Zeit des RAF-Terrorismus. Frau Merkel hat gesagt, die CDU/CSU sei „zu einer nationalen Anstrengung bereit“. Kanzler Schröder sollte auf sie zugehen und sie beim Wort nehmen. Eine Große Koalition ist deswegen nicht nötig.

Helmut Schmidts Artikel, den wir in Auszügen drucken, finden Sie in voller Länge in der aktuellen „Zeit“.

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