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Meinung: Tief oder weit

Nach dem Scheitern der Verfassung stellt sich Europa eine alte Frage in neuer Schärfe

Das Scheitern des Brüsseler Gipfels stürzt die EU in eine tiefe Krise – heißt es landauf, landab. Wann hat es je einen solchen Eklat gegeben: Die Staats- und Regierungschefs gehen ohne Ergebnis auseinander? Doch welcher Art diese Krise sein soll, das ist weniger offenkundig. Die Erweiterung wird jedenfalls nicht gestoppt, im Mai wächst die EU um zehn neue Mitglieder auf dann 25. Auch institutionell ist alles geregelt, nur eben durch den schlechten Vertrag von Nizza – und nicht die transparenteren und demokratischeren Regeln des Verfassungsentwurfs.

Die wahre Krise ergibt sich aus der Verunsicherung, die das Ereignis ausgelöst hat, und aus den Versuchungen, die es eröffnet. Ein ehrgeiziges Projekt, das die Bürger gewinnen sollte, ist gescheitert – aber nicht am bekannten Egoismus im Westen, sondern am größten Beitrittsland, dessen Vertreter an den Verhandlungen im Konvent beteiligt waren und dort kein kategorisches Nein hören ließen. Das vergiftet die historische Bedeutung der Erweiterung. Verdächtig schnell ziehen nun Frankreich und Deutschland den Alternativvorschlag aus einer vergangenen Epoche hervor: Kerneuropa. Europa wird zurückgeworfen auf die Streitfrage von vor rund zehn Jahren – Erweiterung oder Vertiefung? Diesmal kann sie zur Zerreißprobe werden. Denn sie lässt sich nicht mehr mit einem Kompromiss lösen: was zuerst, was danach oder beides parallel? Sie stellt sich nun in aller Schärfe als Entweder-oder.

Entweder ist jetzt die Losung „im Frühling in Dublin“ (oder im Herbst in Amsterdam): Im zweiten Anlauf versucht die EU sich unter günstigeren Bedingungen doch noch auf die Verfassung zu einigen. Polen hat bis dahin erkannt, dass es zu weit gegangen ist und dass der vermeintliche Bundesgenosse Spanien die Blockademacht, die sich aus Nizza ergibt, vor allem gegen Polen einsetzen möchte: bei den Finanzverhandlungen. Auch ist dann nicht mehr der ungeliebte Silvio Berlusconi Ratsvorsitzender, sondern ein Ire, der die Gabe der Vermittlung besitzt.

Oder die Integration im großen Rahmen wird aufgegeben. Es war merkwürdig, dass es keinen ernsten Versuch zu einem Kompromiss zwischen Polen/Spanien und Frankreich/Deutschland gab. Nachdem Polen erklärt hatte, es bestehe auf Nizza (wie die Deutschen auf der doppelten Mehrheit), dachte es, nun beginne das große Feilschen. Stattdessen wurde das Scheitern festgestellt.

Suchen die Kräfte, die vor zehn Jahren lieber Vertiefung als Erweiterung wollten, nun einen Vorwand, um doch noch Kerneuropa zu erzwingen? Es fängt harmlos an: So wie heute nicht alle Staaten beim Schengen-System des passfreien Reisens mitmachen oder beim Euro, kann künftig eine kleine Gruppe vorangehen bei der gemeinsamen Außenpolitik, vielleicht gar beim Militär, bei der Steuerharmonisierung usw. Frankreich und Deutschland hätten in dieser Mini-EU wieder ihr Monopol auf Führung, das in einer EU der 25 in Frage steht. Und könnten alle draußen halten, die anders denken, etwa über das Verhältnis zu den USA. Die Erweiterung wäre vollzogen – und gleich wieder ausgehebelt.

Es ist jedoch sehr die Frage, ob die EU ein solches Europa unterschiedlicher Integration noch aushält. Gerade weil ein viel höheres Maß an Gemeinsamkeit erreicht ist als 1992, wächst die Gefahr, dass verschiedene Geschwindigkeiten Zentrifugalkräfte erzeugen – die eine EU-25 auseinander treiben. Deutschland muss gut überlegen, ob es die Vorteile aus der Integration der östlichen Nachbarn aufs Spiel setzt oder ein neues Rendezvous in Sachen Verfassung anpeilt: auf Wiedersehen, im Mai, in Dublin.

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