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Bevor sie zum EU-Gipfel fährt, muss Merkel die Abstimmung im Bundestag abwarten.

© dapd

Tissy Bruns: Ein Hoch auf die Volksvertretung

Niemand durchschaut mehr die Mechanismen dieser Krise. Die selbst verschuldete Defensive der Politik spürt das Volk schon längst – und wendet sich ab. Aber es gibt Anlass zur Hoffnung, dass sich die politische Kultur verändert.

Scheitert der Euro, scheitert Europa, sagt die Kanzlerin. Scheitert der Gipfel, denken die Bürger, kommt bald der nächste. Und scheitert er nicht, wahrscheinlich auch. So nehmen nach achtzehn Monaten Griechenland/Euro/Schuldenkrise viele Bürger das Wirken ihrer Politiker wahr.

Um das Vertrauen der Bürger in Politik und Institutionen ist es schlecht bestellt. Was die große Mehrheit des Bundestags befürwortet hat, hält eine Mehrheit der Bevölkerung bestenfalls für einen Schritt zur nächsten Ernüchterung, weil Griechenland noch teurer wird oder ein weiterer Staat in den Kreis der Pleitekandidaten rückt. Gefühle und Befürchtungen, die im Bundestag viele der Abgeordneten teilen, die am Mittwoch zugestimmt haben.

Fast keiner von ihnen befindet sich im Irrtum über die Qualität der Bundestagsentschließung. Im Herbst 2011 haben sie die Wahl zwischen einer schlechten (mit Steuermilliarden pokern) und einer noch schlechteren Lösung (eine Finanzkrise wie 2008 riskieren). Wer in eine solche Lage gerät, steht mit dem Rücken an der Wand und befindet sich in äußerster Defensive.

Das wissen unsere europäischen Gipfelprofis – und tun doch von Gipfel zu Gipfel so, als hindere sie nur die zögerliche Politik der jeweils anderen (Sarkozy, Merkel, EZB …), den Stein der Weisen zu beschließen. Die selbst verschuldete Defensive der Politik spürt das Volk schon längst – und wendet sich ab. Die Mixtur aus Muskelspielen und Entscheidungsschwächen in den politischen Strukturen entspricht denen der Krise selbst. Und die Wahrheit ist, dass diese Krise sich dem rationalen Zugriff latent entzieht, weil niemand mehr ihre Mechanismen durchschaut und beherrscht. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir auf einem Tiefpunkt unserer politischen Kultur angelangt sind, die sich doch dem Geist der Aufklärung verpflichtet fühlt. Wir waren so dumm, der Entscheidungsfreiheit von Menschen und ihrer Institutionen weniger zu vertrauen als der Freiheit blinder Märkte, deren Akteure erwiesenermaßen zu Meutenverhalten und Irrationalität neigen.

Europa ist eine Demokratielandschaft. In Merkels mahnendem Motto vom Scheitern schwingt deshalb das der Demokratie mit. Doch zur Wirklichkeit dieses Herbstes gehört eine spürbare Veränderung des politischen Szenarios. Unsere demokratische Kultur ist es, die Anlass zu Hoffnungen gibt, zu einer Wende zum Besseren. Das Volk, enttäuscht über die Politik, verunsichert über die Zukunft, dieses Volk spielt nämlich wieder mit. In diesem Herbst ist der lähmende Konformismus endgültig gewichen, der in den Jahren vor 2008 die öffentliche Meinung beherrscht hat. Die außerparlamentarischen Bewegungen, die neuerdings in Frankfurt demonstrieren oder gestern vor dem Bundestag ihre Transparente gezeigt haben, sind die von kleinen Minderheiten. Ihre Wirkung besteht in der erfreulichen Ansteckungsgefahr, die von ihrem medialen Geschick ausgeht.

Das wichtigste Signal aber hat vorerst die deutsche Volksvertretung mit ihrem Beharren auf Mitentscheidung gesetzt. Sie hat, erstaunlich genug, schon bei erster Anwendung mehr als nur symbolische Wirkung gezeigt. Die Debatte um die „Hebelung“ der Rettungsgelder wäre ohne den Bundestag anders ausgegangen. Je mehr das Parlament die Regierung binden kann, desto mehr wird die abgehobene Spitzenpolitik auf die Menschen verwiesen, die ihre Abgeordneten mit Zweifeln und Unmut bedrängen.

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